In einer anderen Haut
ansatzweise, was in ihrem Blick lag. Während sie dort in ihrem Top und ihrer Pyjamahose stand und sich die Härchen an ihren Unterarmen aufrichteten, fühlte sich Anne durch und durch machtlos, und zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, größer, schwerer, stärker zu sein. Nun fühlte sie sich wie jemand, der mühelos zerquetscht werden konnte. Ohne ein Wort schloss Hilary die Augen und schien gleich wieder eingeschlafen zu sein.
Was sollte sie der Polizei erzählen? Da ist jemand in meiner Wohnung – nein, es war kein Einbruch, die beiden haben sich mehr oder weniger eingeschlichen? Oder: Ich werde von einem fetten Mädchenund ihrem pickeligen Freund bedroht? Überhaupt, worin bestand ihr Verbrechen? Die ganze Nacht brütete sie über diesen Fragen, während ihre Wut immer größer wurde. Gegen Morgen beschloss sie, Hilary zu sagen, dass sie die Polizei rufen würde, wenn der Junge nicht wieder verschwand. Eine Ausreißerin war eine Ausreißerin. Womöglich prangte Hilarys Vermisstenfoto längst als Suchanzeige auf einem Milchkarton. Vielleicht würden ihr Hilarys Eltern dankbar sein.
Als sie am Morgen ins Wohnzimmer kam, war der Junge nicht mehr da. Anne machte Kaffee und wartete, dass Hilary aufwachte, während sie sich fragte, was sie zu ihr sagen sollte. Sie hatten keine gemeinsame Sprache für das Gespräch, das sie führen mussten. Sie hatten nie über irgendetwas Vertrauliches, schon gar nicht über Liebesdinge geredet, und nun war es zu spät, eine derartige Basis zu finden. Sie konnte Hilary nicht fragen, wer der Junge war, weil sie nie gefragt hatte, wer
Hilary
war.
Als Hilary schließlich erwachte und Anne bemerkte, schien sie nicht im Mindesten besorgt zu sein. Stattdessen hatte es den Anschein, als hätte sie sich im Schlaf bereits auf die Konfrontation vorbereitet. Ihre trägen Kuhaugen waren wachsam. «Danke, dass wir bei dir unterkriechen durften», sagte sie.
«Wir?»
, gab Anne zurück.
«Ich und Alan. Wir waren echt am Verzweifeln. Du hast uns den Arsch gerettet.»
«Mir war nicht bewusst, dass ihr zu zweit seid.»
«Na ja, ’ne Weile hat Alan oben in Syracuse auf dem Bau gearbeitet. Aber jetzt ist er wieder da.»
Anne konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie der dürre Punk einen Hammer schwang oder schwere Bretter schleppte.Was, wenn irgendein Werkzeug in seinen Piercings hängen blieb? Plötzlich ging ihr auf, dass sie sich allmählich genau wie ihre Mutter verhielt und nun auch noch auf der falschen Seite des Generationenkonflikts stand. «Ihr könnt nicht beide hierbleiben», sagte sie.
Hilary nickte, als hätte sie das bereits erwartet. «Okay. Aber geht es nicht wenigstens, bis das Baby kommt?»
Bis das Baby kommt
. Anne musste die Worte gedanklich mehrmals wiederholen, um ihre Tragweite zu begreifen. «Du lieber Himmel», sagte sie. «Du bist schwanger.»
Für ein paar flüchtige Augenblicke spiegelten sich verschiedenste Gefühle – Begreifen, Angst, leichtes Amüsement – auf Hilarys Zügen, doch dann hatte sie sich auch schon wieder unter Kontrolle. «Ich bin erst in drei Monaten so weit», erwiderte sie. «Alan will sich so lange um eine Bleibe für uns kümmern. Er kennt ein paar Hausbesetzer in Jersey City.»
Anne wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, obwohl ihr klar war, dass Hilary ihr Schweigen als Einverständnis deuten würde. Sie fühlte sich wie eine Vollidiotin.
«Keine Sorge», fügte Hilary sanft hinzu, als spräche sie mit einem Kind. «Alles wird gut.»
Zum ersten Mal seit Jahren wusste Anne nicht, was sie tun sollte; sie wünschte, sie hätte eine Freundin gehabt, die sie um Rat bitten konnte. Sie war nicht viel älter als Hilary gewesen, als sie ihr Elternhaus verlassen hatte, und seitdem hatte sie andere Menschen stets auf Distanz gehalten, insbesondere Frauen, die sich die intimsten Geheimnisse anvertrauten, als hinge davon ihr Seelenheil ab. Allein und autark zu sein bedeutete, anderen überlegen zu sein. Aber vielleicht war es doch nicht die beste Strategie.
Aus Respekt oder wahrscheinlich eher, um sie nicht noch weiter zu provozieren, ließ Alan sich an jenem Morgen nicht mehr blicken. Nach dem Frühstück schlug Anne vor, einen Spaziergang zu machen, und Hilary nickte.
Sie gingen Richtung Tompkins Square Park; der Wind peitschte ihnen ins Gesicht, und Anne zog sich ihre Mütze über die Ohren. Trotz des unfreundlichen Wetters waren jede Menge Leute unterwegs, genossen ein spätes Frühstück, erledigten ihre
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