In einer anderen Haut
ließ.
Im Lauf der nächsten Wochen erzählte Anne ihrer Mitbewohnerin, wie sie mit sechzehn ihr Zuhause in Montreal verlassen hatte. Sie war mit einem Typ nach Burlington, Vermont, durchgebrannt, wo sie einen Job als Kellnerin in einem Coffeeshop angenommen und zur Untermiete bei der Schwester des Typen gewohnt hatte, die sie für eine Studentin hielt. Dann ging sie nach Vancouver; es gefiel ihr dort nicht, aber während ihres Aufenthalts trieb sie sich in der dortigen Theaterszene herum und beschloss, Schauspielerin zu werden. Sie blieb ein Jahr, ehe sie weiterzog – Las Vegas, Denver, Chicago. Ein Jahr lag lebte sie mit einem Typen zusammen, den sie ineinem Park beim Entenfüttern kennengelernt hatte. Er sagte, sie könne bei ihm wohnen, wenn sie für ihn kochen würde. Sechs Monate später gestand er ihr, dass er sie liebte, und sie glaubte ihm. Er war ein Gentleman und sagte, er wisse, dass sie schwere Zeiten hinter sich habe, dass er sie mit Respekt und Zartgefühl behandeln wolle. So redete er allen Ernstes, von
Zartgefühl
. Und während all der Zeit, die sie mit ihm zusammenwohnte, fasste er sie kein einziges Mal an. Gegen Ende des Jahres machte er ihr einen Heiratsantrag, doch sie sagte, sie fühle sich noch nicht reif für eine Ehe. Er nickte und erwiderte, er würde sie verstehen, doch um Mitternacht kam er in ihr Zimmer, schlüpfte zu ihr ins Bett und begann, ihren nackten Rücken zu streicheln. Sie setzte sich auf und sagte, «Lass das, bitte», wobei sie versuchte, so kindlich und verletzlich wie möglich zu klingen.
«Ich weiß, wie es wirklich in dir aussieht», sagte er. «Du willst es doch auch.»
Sie floh im Pyjama aus dem Haus. Es war das erste Mal, dass sie in einem Obdachlosenheim übernachten musste, und sie schwor sich, dass es auch das letzte Mal sein würde. Danach war sie nie wieder mit einem Mann zusammengezogen. Sie benutzte Männer, um an Jobs zu kommen, ließ sich von ihnen zum Essen einladen oder durch die Gegend kutschieren, lebte aber nicht mit ihnen zusammen. In New York hatte sie zunächst in einer Jugendherberge gewohnt und die Rechnung bar bezahlt, ehe sie über Larry an die Wohnung gekommen war. Sie vertraute niemandem, nur sich selbst.
In den vergangenen sechs Jahren hatte sie ihren Eltern drei Mal geschrieben. Das erste Mal, um ihnen mitzuteilen, dass es ihr gut ging und sie nicht nach ihr suchen sollten. Beim zweiten Mal hatte sie ihnen in einer sentimentalen Anwandlung eine Weihnachtskarte aus Las Vegas geschickt, als sie betrunken gewesen war. Das letzte Mal war erst ein Jahr her. Sie war mitten in der Nacht aufgewacht, hatte sich plötzlich furchtbare Sorgen um ihre Mutter gemacht; es war, als wäre sie aus einem Albtraum erwacht, ohnesich an etwas erinnern zu können. Sie war schweißgebadet und zitterte am ganzen Körper. Sie glaubte nicht an Vorahnungen oder böse Omen, aber sie war so durch den Wind, dass sie trotzdem nach Hause schrieb. Ihre Adresse gab sie nicht an, und sie zog auch nicht in Betracht, wieder nach Hause zurückzukehren. Dazu war zu viel Zeit vergangen; mittlerweile war sie ein anderer Mensch, selbst eine Erwachsene. Sie schrieb einfach:
Mom, ich liebe dich. Annie
. Es war nicht gerade das, was sich eine Mutter erträumt hätte, aber immerhin war es überhaupt etwas, und das musste reichen.
«Und warum bist du abgehauen?», fragte Hilary. «Na ja, dafür gab’s doch bestimmt einen Grund.»
Anne zuckte mit den Schultern.
«Hast du mal dran gedacht, nach Hause zurückzugehen?»
«Nein.»
Schweigend strich sich das Mädchen über den Bauch. Ihr Blick war schläfrig, unergründlich.
«Woher wusstest du, dass ich abgehauen bin?», fragte Anne.
Hilary machte eine ausholende Handbewegung. «Hier ist alles leer», sagte sie. «Nirgendwo etwas Persönliches.»
«Sieht so aus», erwiderte Anne.
Hilary sah sie an, und plötzlich war ihr Blick durchdringend scharf. «Mädchen wie du können haben, was immer sie sich wünschen», sagte sie. «Du hast dir dein Leben selbst ausgesucht.»
Anne hielt ihrem Blick stand. «Genau wie du», sagte sie.
3
Iqaluit, 2006
Natürlich wollte Martine nicht, dass er ging. Als er ihr von seinem Auftrag erzählte, stand sie mit verschränkten Armen im Wohnzimmer. Tatsächlich war sie Rechtsanwältin, doch mit ihrer missbilligend gerunzelten Stirn und der dickrandigen Brille sah sie eher wie eine Bibliothekarin aus. Wann immer sie eingeschnappt oder verletzt war, reagierte sie mit verbissenem Zorn, und Mitch liebte
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