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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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musterte ihn mit unverhohlener Verachtung, unter deren Oberfläche gleichwohl eine Art Verlangen zu schlummern schien. Bestimmt hatte sie auf einen besseren Kandidaten gehofft, dachte er, aber in der Not fraß der Teufel bekanntermaßen Fliegen.
    Sie wechselte ins Englische. «Ich brauche einen Drink», sagte sie.
    «Darf ich Sie einladen?»
    Sie nickte und führte ihn zu einer Bar in der Saint-Paul – ziemlich aggressiv, wie er fand, doch später bekam er heraus, dass Martine schlicht keinen Sinn darin sah, so zu tun, als wüsste sie nicht,was sie wollte. Er bestellte einen Martini für sie und ein Bier für sich selbst. Sie rauchte weiter, zündete sich am glühenden Stummel der letzten eine neue du Maurier an, während sie sich über die wesentlichsten Dinge austauschten: Namen, Beruf, wo sie lebten und arbeiteten. Ihre Frisur machte sich weiter selbstständig; die Hälfte ihrer Locken hatte sich bereits gelöst.
    «Waren Sie lange verheiratet?», fragte er.
    «Es fühlt sich wie eine kleine Ewigkeit an», erwiderte sie. «Aber während der letzten Jahre haben wir ohnehin getrennt gelebt.
Fait que
, eigentlich hat sich gar nicht viel verändert.»
    «Aber trotzdem ist es ein Einschnitt.»
    Sie nickte. «Ja.»
    Er bestellte noch einen Drink für sie, und dann noch einen. Gegen zehn landeten sie in ihrer Wohnung und dann in ihrem Bett – sie hielt die Augen geschlossen, er hatte noch sein T-Shirt an.
    «J’ai besoin»
, murmelte sie an seinem Hals.
«J’ai besoin de toi.»
Sie ließ keinen Zweifel daran, welchen Teil von ihm sie wirklich brauchte. Seine Antwort bestand darin, dass er sich an sie presste, und sie gab sich ihm hin. Um elf bedankte sie sich bei ihm – so freundlich und unpersönlich wie bei einem Kellner für besonders guten Service – und bat ihn zu gehen. Hinterher stand er kopfschüttelnd in der eisigen Kälte. Die Straße war leer und dunkel. Über den Apartmentblocks im Osten schien ihm der Turm des Olympiastadions zuzuzwinkern. Am liebsten hätte er laut gejubelt. Er fragte sich, ob all das tatsächlich geschehen war. Und er wünschte sich inbrünstig, dass es wieder passieren würde.

    Zwei Wochen nachdem er ihr die Neuigkeiten unterbreitet hatte, flog er nach Iqaluit. Von seinem Fensterplatz aus sah er die dichte Wolkendecke, die über dem Land lag; er versuchte, sich die Felsen und das Eis vorzustellen, hoffte, sich dabei frei und ungebunden zu fühlen. Einst war er dort glücklich gewesen, in jenem Sommer, als er sich von Grace getrennt hatte, als die Arktis eine Zuflucht gewesen war, einen Neuanfang für ihn bedeutet hatte. Nachdem er als Ehemann so erbärmlich gescheitert war, hatte er sich mit Feuereifer in die Arbeit gestürzt, jeden Tag zwölf bis vierzehn Stunden im Job verbracht, fest entschlossen, sich in seinem Beruf zu bewähren. Das Schlimmste an der Scheidung war, dass er jeden Respekt vor sich selbst verloren hatte. Er liebte alles an Grace, immer noch – ihre Werte, ihre Persönlichkeit, ihre Träume. Nur sie selbst liebte er nicht mehr. Die Einsicht war demütigend, fatal. Mitch war immer der nette Kerl von nebenan gewesen, der sich schulterzuckend damit abgefunden hatte, dass man mit Nettigkeit keinen Blumentopf gewinnen konnte, und nun musste er feststellen, dass er gar nicht so nett war und trotzdem leer ausging. Und er allein trug die Schuld daran. Darum hatte er sich voll und ganz auf seine Arbeit in der Arktis konzentriert. In seiner Freizeit trainierte er eine Jugend-Basketballmannschaft. Es war die anstrengendste und aufreibendste, aber letztlich auch bereicherndste Zeit seines Lebens. Nachdem er nach Montreal zurückgekehrt war, blieb er noch eine Weile in Verbindung mit den Jungs, doch nach und nach riss der Kontakt ab. Die Einladung, wieder dort zu arbeiten, war aus heiterem Himmel gekommen, und in den letzten Wochen hatten ihn die pausenlosen Diskussionen mit Martine so sehr beschäftigt, dass ihm kaum Zeit geblieben war, sich mit dem Ort selbst zu befassen.
    Es war Juni und noch hell, als sie nach zehn Uhr abends landeten. Die Häuser von Iqaluit lagen verstreut wie Kiesel, die jemand willkürlich zu Boden hatte fallen lassen, mitten im Nichts. Hier und da erhoben sich graue, halb von Moos bedeckte Felsmassive,die wie aus stürmischer See aufragende Walrücken aussahen. Weit und breit war kein Wölkchen zu sehen; der Himmel war strahlend blau, die Luft klar und dünn. Die anderen Passagiere – die meisten erweckten den Eindruck, als würden sie nach Hause

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