In einer anderen Haut
sie für die Durchsichtigkeit ihrer Pose – fast so sehr wie für die stille, resignierte Art, mit der sie einlenkte, als sie zusammen im Bett lagen, nicht ohne die eine oder andere Träne zu vergießen.
«Ich verstehe dich nicht», sagte sie. Ihre wirren Locken ergossen sich silbrig blond über das Kissen. Wie immer, wenn ihr etwas naheging, trat ihr französischer Akzent deutlicher hervor. «Es ist so weit weg.»
«Die Rotation dauert doch nur ein paar Monate», sagte er. «Und das Ganze wird gut bezahlt.»
«Aber da oben ist es doch total deprimierend. Das hast du selbst gesagt.»
«Das liegt daran, dass die Menschen dort depressiv sind.»
«Und warum musst du ausgerechnet dorthin?»
«Weil die medizinische Versorgung für die einheimische Bevölkerung nicht ausreicht», erwiderte er. «Sie benötigen Hilfe. Sie brauchen mich.»
Martine stützte sich auf den Ellbogen, eine Hand auf ihr Ohr gelegt, als wolle sie seine Worte ausblenden.
«C’est assez, là»
, murmelte sie in ihr Kissen, aber er hakte nicht nach, wovon genau sie nun genug hatte – seiner Reise oder den Argumenten, mit denen er sich rechtfertigte. Im Kinderzimmer wälzte sich Mathieu ruhelos von einer Seite auf die andere, wie er es immer stundenlang machte, ehe er irgendwann einschlief. Dann aber schlief er wie ein Toter, und morgens, während Martine das Frühstück bereitete, war es Mitchs Aufgabe, ihn wieder ins Reich der Lebenden zu holen. Er hätte nie zugegeben, wie sehr er diese Pflicht hasste, wie oft er neben dem Bett des Jungen kauerte, den Blick auf seine Brust geheftet, um sich zu vergewissern, dass er noch atmete – stets davon überzeugt, dass diesmal, an diesem Morgen seine Atmung ausgesetzt hatte –, oder wie heftig er manchmal an Mathieus Schulter rütteln musste, ehe er schließlich zögernd die Augen aufschlug.
Den Bären wecken
, so nannte es Mitch insgeheim, als wäre sein Sohn ein riesiges, bedrohliches Tier statt eines mageren, feingliedrigen Fauns. An den meisten Morgen rollte er sich zu einem Ball zusammen und murmelte zornig
«Non, non» –
ein Aufbegehren gegen das Erwachen, gegen Mitch, gegen den Lauf der Welt. Wenn Mitch ihn dann aus dem Bett nahm und in die Küche trug, hämmerte Mathieu mit den Fäusten gegen seine Brust, bis Mitch ihn wieder herunterließ. Das war ihr tägliches Ritual.
Zwischen Martine und Mitch unausgesprochen blieb der Vorwurf, dass er den Job nur angenommen hatte, um sich nicht mit ihrem Sohn auseinandersetzen zu müssen, dass die Menschen in Nunavut vielleicht wirklich seine Hilfe benötigten, es ihm in erster Linie aber darum ging, sich aus dem Staub machen zu können.
Er hatte Martine an dem Tag kennengelernt, als ihre Scheidung rechtskräftig geworden war, in einem Moment von Schmerz und Verletzlichkeit, den er mehr oder minder skrupellos zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte. Hätte er sie nur einen Tag später kennengelernt, glaubte er, wäre wohl nie etwas zwischen ihnen gelaufen.Martine war fünfundvierzig, sexy, scharfsinnig und intelligent. Sie investierte ihre gesamte Energie in ihren Job und die Erziehung ihres Sohns; ihrem Ehemann hatte sie den Laufpass gegeben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er mit einem schwierigen Kind völlig überfordert war und sich mit anderen Frauen tröstete. Nur nachts zeigten sich Risse in ihrer autarken Fassade, doch selbst dann verwandelte sie sich nur selten in die weinende Frau, die damals vor dem Palais de Justice eine Zigarette geraucht hatte, ihr Husten und Schluchzen erstickte Laute in grauem Dunst. Seit dem Scheitern seiner eigenen Ehe war Mitch meist Single gewesen, und bei seinen wenigen Beziehungen hatten stets Frauen die Initiative ergriffen. Diese Frau aber brauchte so dringend Zuspruch – eine aufmunternde Geste, ein Taschentuch –, dass er stehen blieb und ein Tempo aus seiner Manteltasche kramte. Es war ein kalter Tag, und ihre Augen waren rot und verquollen. Ihre Locken hatte sie zu einer komplizierten Frisur aufgetürmt, aus der sich einige Strähnen gelöst hatten. Sie bedankte sich auf Französisch, ließ die Zigarette grazil zwischen die Finger ihrer linken Hand gleiten und schnäuzte sich ohrenbetäubend laut mit der rechten. Es machte Mitch sprachlos, wie jemand dabei so wunderschön aussehen konnte. Er war schon immer ein Romantiker gewesen, aber Scheidung und mittlere Jahre hatten ihn völlig desillusioniert – jedenfalls hatte er das bislang geglaubt.
«Alles okay mit Ihnen?», fragte er.
Die Frau
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