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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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weit weg von zu Hause zu sein.
    Johnny schenkte sich nach. Auf den ersten Blick hatte Mitch ihn jünger geschätzt, doch nun sah er die tiefen Falten, die dunkelbraunen Flecken auf seinen Wangen und seiner Stirn, die gelblichen Zähne. Er hätte genauso gut Mitte vierzig oder Anfang fünfzig sein können, und womöglich verdankte sich seine hagere Statur keineswegs regelmäßigem Fitnesstraining, sondern einer Diät aus Whiskey und Nikotin. Genau in jenem Moment zündete er sich eine Zigarette an und blies eine dicke Rauchwolke aus. «Sie sind also Seelenklempner, ja?»
    «Therapeut», erwiderte Mitch, während er sich daran erinnerte, wie schnell sich Neuigkeiten in einem kleinen Ort wie diesem verbreiteten. «Ich bin spezialisiert auf Suchterkrankungen, und …»
    «Wie, keine Drogen?» Johnny war sichtlich enttäuscht. «Sie verschreiben nicht mal Medikamente?»
    «Nein.»
    «Kein Xanax? Keine kleinen Helfer?»
    «Kognitive Verhaltenstherapie.» Mitch betonte jede einzelne Silbe in leicht verärgertem Ton.
    Johnny machte eine wegwerfende Handbewegung. «Blablabla.Her mit den Drogen, das ist meine Devise. Ehrlich, wenn Sie mein Verhalten ändern wollen, schießen Sie mir am besten direkt was in die Vene.»
    Mitch stand auf. «Ich glaube, ich hau mich in die Falle.»
    Johnny sprang auf. Die lange Asche von seiner Zigarette fiel zwischen ihnen auf den Tisch, als er Mitch auf die Schulter schlug. «Du liebe Güte», sagte er. «Ich wollte Sie nicht in Ihrer Berufsehre kränken. Ich hatte bloß gehofft, Sie würden für Nachschub sorgen, verstehen Sie? Damit sich das Medizinschränkchen mal wieder ein bisschen füllt.» Er lächelte Mitch verschwörerisch an, als könne man unter Freunden so etwas erwarten. Als Mitch schwieg, errötete er und sah plötzlich wieder jünger aus. «Bitte verzeihen Sie», sagte er. «Ich bin einfach schon zu lange hier oben.»
    «Vergessen Sie’s», erwiderte Mitch.
    «Ist auch egal, ich habe andere Quellen», sagte Johnny gleichmütig. «Alles kein Problem.»
    Mitch ging, während er sich die nächste Zigarette ansteckte. Er legte sich auf das Einzelbett; das Licht drang fast ungehindert durch den fadenscheinigen rosafarbenen Vorhang. Der Nikotingeruch in seinen Sachen erinnerte ihn an Martine, und einen Moment lang überlegte er, ob er sie anrufen sollte, um ihr zu sagen, dass er wohlbehalten angekommen war, doch während er noch daran dachte und sich der Whiskey in seinem Blutkreislauf ausbreitete, schloss er die Augen und schlief ein.

    Nach der ersten Verabredung mit Martine hätte er die Sache ruhen lassen sollen. Sicher hatte sie so etwas erwartet; er war kein sonderlich aussichtsreicher Kandidat für eine Langzeitbeziehung, aber wenigstens sprach für ihn, dass er klug genug war, dies zu erkennen. Aber er wollte es gar nicht. Im Lauf der Jahre hatte er sich mit ein paar geschiedenen Frauen eingelassen; für gewöhnlich war er lange genug mit ihnen zusammengeblieben, um einige Male mit ihnen ins Bett zu gehen, sich in Erinnerung zu rufen, wie es überhaupt war, Sex zu haben, und schließlich ließ er das Ganze wieder einschlafen. Er wurde zu dem Typen, der nie zurückrief. Dem Typen, der am Wochenende mit dem Kleinen Fangen spielte und sich anschließend nie wieder blicken ließ. Es lag weniger an seiner Herzlosigkeit als an seiner Apathie, und Grace hätte ihm bestimmt klargemacht, dass die eine allzu leicht aus der anderen erwuchs. Doch Grace war eben nicht mehr da.
    Mit Martine aber war es, als hätte er einen Filmstar kennengelernt. Ihre Telefonnummer kannte er nicht, und ihren Nachnamen hatte er gleich wieder vergessen, nachdem sie sich in der Bar einander beiläufig vorgestellt hatten. Doch er erinnerte sich an ihr hübsches Apartmenthaus an einer kleinen Allee in Hochelaga-Maisonneuve und versuchte es aufs Geratewohl. Eines Freitagabends um halb sieben kam er mit einer Flasche Wein und einer gut gefüllten Kühltasche vorbei. Eins sprach jedenfalls für ihn: dass er kochen konnte. Und warum sollte er nicht auf seine Stärken zurückgreifen?
    Der etwa sieben Jahre alte Junge, der die Tür öffnete, war schmal und blond, ein Kind wie aus dem Bilderbuch. Mitch fragte ihn auf Französisch, ob seine Mutter zu Hause wäre. Der Junge starrte ihn nur an, während er rhythmisch an seiner Unterlippe nagte. Als Mitch ihn nach seinem Namen fragte, erhielt er immer noch keine Antwort. Schließlich ging er in die Hocke und stellte sich vor, konnte ihm aber auch dadurch kein Wort

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