In einer anderen Haut
entlocken. Der Junge rieb lediglich seinen rechten großen Zeh am Teppichboden in der Diele, in genau demselben Rhythmus, in dem er sich auf die Unterlippe biss.Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hielt er einen Zwanzigdollarschein in der rechten Hand, ließ ihn unvermittelt fallen und rannte davon.
Mitch erhob sich wieder, unsicher, was er jetzt tun sollte. Aus dem hinteren Teil der Wohnung hörte er Martine rufen, dass es ziehen würde, und dann stand sie auch schon in der Diele. Sie roch nach Parfüm und Zigaretten; ihr Haar hatte sie zu einem tief im Nacken sitzenden Knoten frisiert. Als sie Mitch erblickte, blieb sie abrupt stehen.
«Tut mir leid», sagte sie. «Wir haben gedacht, es wäre der Pizzamann. Du hast Mathieu wahrscheinlich total verunsichert.» Der kritische Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
«Entschuldigung», sagte Mitch. «Ich wusste nicht, dass du einen Sohn hast.» Er fragte sich, wo der Junge letztes Mal gewesen war.
Sie sah ihn ausdruckslos an, schien in Gedanken immer noch beim Bügeln oder Geschirrspülen – wobei auch immer er sie unterbrochen haben mochte. Die Brille rutschte ihr die Nase hinunter.
«Ich habe etwas zu essen mitgebracht», sagte er.
«Pardon?»
«Ihr habt zwar Pizza bestellt, aber … Na ja, ich habe eine gebratene Lammkeule, Frühkartoffeln und Salat mitgebracht. Und eine Flasche Wein.» Er deutete auf die Kühltasche zu seinen Füßen. «Es ist Freitagabend, und ich dachte, du hättest vielleicht keine Lust zu kochen.»
Es sah nicht so aus, als wolle sie antworten. Kein Wunder, dass der Kleine kein Wort herausbekommen hatte. Sie biss sich sogar auf die Unterlippe, genau wie er.
Aus einem der hinteren Zimmer drang plötzlich ein markerschütternder Schrei, gefolgt vom dumpfen Aufprall eines Möbelstücks. Martine wandte sich um und lief den Flur entlang, und kurz darauf hörte er, wie sie auf den Jungen einredete, bis seine Wutausbrüche allmählich verklangen wie kleiner werdende Wellen, die gegen ein Gestade wuschen.
Der kalte Hauch des Winters strich durch den Hausflur, und ihn fröstelte. So unerwünscht hatte er sich sein ganzes Leben noch nicht gefühlt. Nach ein paar Minuten schrieb er seine Telefonnummer auf ein Stück Papier, klemmte es unter den Deckel der Kühltasche und rief: «Also, ich geh dann mal wieder. Auf Wiedersehen!»
Er erhielt keine Antwort.
Als er in Iqaluit erwachte, rief er zu Hause an, doch niemand ging ans Telefon. Es war Samstag, und wahrscheinlich war Martine mit Mathieu im Zoo oder im Museum. Sie hatte einen Hang zum Aktionismus. Sie hoffte, dass ihr leicht autistischer Sohn insgesamt ausgeglichener werden würde und sich irgendwann für anderes als ausschließlich technische Dinge begeistern würde, wenn sie ihm nur genug Auswahl an Alternativen bot. Ratschläge von Dritten tolerierte sie nicht. Er hinterließ ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und machte sich auf den Weg zur Klinik. Es war kühl und windig; der Himmel changierte in verschiedensten Grautönen von Asche über Stahl bis hin zu Perlmutt. Dennoch war Sommer: Im harten Boden blühten Gänseblümchen und Arktischer Mohn, und auf den Felsen breiteten sich mattgrüne Flechten aus. Einen Moment lang ergriff ein überbordendes Glücksgefühl Besitz von ihm. Was immer hier auch geschehen würde, ob gut oder schlecht, er war nicht zu Hause, und diese Freiheit ließ sich nicht mit Gold aufwiegen.
Im Krankenhaus angekommen, stellte er sich der diensthabenden Schwester vor, die ihn zu seinem Schreibtisch brachte und ihm seinen Terminplan vorlegte. Es ging sofort los. Seit Wochen stauten sich Patienten, die darauf warteten, dass endlich der neue Doktoreintraf – sein Vorgänger hatte offenbar so etwas wie einen Burn-out erlitten und war einen Monat früher als vorgesehen nach Toronto zurückgekehrt –, deshalb waren die Termine im Zwanzigminutentakt vereinbart. Als die Schwester nebenbei ein paar Worte über den früheren Therapeuten verlor, hörte er deutliche Verachtung für die Weicheier aus dem Süden heraus, doch er nickte nur gelassen, bereit, sich an die Arbeit zu machen. Aus Erfahrung wusste er, dass mindestens die Hälfte der Patienten nicht erscheinen würde. Sie vergaßen ihren Termin, überlegten es sich anders oder hatten von vornherein nicht vorgehabt, ihn tatsächlich wahrzunehmen; viele meldeten sich nur an, weil ein Richter oder Arzt ihnen professionelle Hilfe empfohlen hatte, sagten dann aber nicht wieder ab, weil sie nicht
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