In einer anderen Haut
mit grünen Korridoren und überarbeiteten, apathisch wirkenden Ärzten, Pflegern und Schwestern, die ihn keines Blickes würdigten. Es war ihm egal, und ebenso wenig kümmerte ihn die Kälte des Juniabends, die ihn frösteln ließ. Er war noch einmal davongekommen.
Nach dem gründlich fehlgeschlagenen Besuch bei ihr war er sicher, dass er Martine nie wiedersehen würde. Das Junggesellenleben, mit dem er sich im Lauf der Jahre arrangiert hatte, kam ihm jetzt leer und erbärmlich vor, und plötzlich befiel ihn ein Gefühl der Sinnlosigkeit, das ihn langsam, aber sicher zu ersticken drohte. Von nun an würde er allein sein.
Dann rief sie an.
Diesmal trafen sie sich tagsüber, gingen mit Mathieu ins Kino und hinterher in den Park. Und dann geschah etwas ganz und gar Unerwartetes. Mitch hatte eine Schwäche für Martine – auf die hoffnungslos verunsicherte Art und Weise, wie man für eine Frau schwärmt, die in einer völlig anderen Liga spielt, eine Frau, die sich einmal dazu herabgelassen hatte, mit jemandem wie ihm ins Bett zu gehen –, doch er verliebte sich in ihren Sohn. Und seine Liebe wurde erwidert. Anscheinend litt der Junge am Asperger-Syndrom; er wusste alles über Dinosaurier und kannte ganze Lexikoneinträge auswendig. Er erzählte Mitch alles über den Tyrannosaurus Rex und das «Land vor unserer Zeit», womit er offenbar die Ära der Dinosauriermeinte. Und während Mitch dem wunderschönen, roboterhaften Kind lauschte, schmolz sein Herz wie Eiswürfel in warmem Wasser. Als der Nachmittag dem Ende zuging, hielt Mathieu seine Hand und dozierte über Velociraptoren.
Martine schien es nicht glauben zu können. «Das ist noch nie passiert», sagte sie und klang dabei fast gekränkt.
«Kann er mit zu uns kommen?», fragte Mathieu seine Mutter auf Französisch. «Ich will mit ihm spielen.»
«Er ist kein Spielzeug, Schatz», erwiderte Martine.
Der Junge sah sie nur ausdruckslos an. Wenn es nicht gerade um Dinosaurier ging, ließ sich schwer sagen, was er dachte. Mitch ahnte, welche Sorgen er seiner Mutter bereitete, die ihn pausenlos mit neuen Offerten köderte und hoffte, dass er irgendwann anbeißen würde. Mitch hätte gern eingewilligt, schwieg aber, da er sich noch ziemlich lebhaft an seine erste Begegnung mit dem Jungen erinnern konnte.
«Frag ihn doch selbst», sagte Martine schließlich.
«Kommst du mit zu uns?», fragte Mathieu ihn, ohne zu zögern. Noch war er nicht bereit, ihn mit seinem Namen anzusprechen oder als Erwachsenen zu akzeptieren. Er behandelte ihn wie eine Mischung aus Kumpel und Publikum.
«Na klar», sagte Mitch und warf Martine einen Seitenblick zu. Eigentlich hatte er ein dankbares Lächeln oder ein anerkennendes Nicken erwartet, doch stattdessen wirkte sie irritiert und leicht besorgt. Sie hielt ihrem Sohn die Hand hin, doch Mathieu ignorierte sie und griff nach Mitchs Hand. Derart vereint, derart getrennt traten sie den Nachhauseweg an.
Im Lauf der nächsten Monate nahm Mitchs Verhältnis zu dem Jungen beinahe leidenschaftlich intensive Züge an. Sie verbrachten jedes Wochenende zusammen. Er nahm Mathieu mit in den Parc Lafontaine und ins Planetarium, spielte mit ihm, las ihm
Tim und Struppi
vor. Da Martine Besuche an Schultagen als störend empfand, sehnte er sich bereits Mitte der Woche nach dem Jungen,fragte sich, was Mathieu gerade so machte, und stellte sich vor, wie er schlief, den Blondschopf auf sein rotes Flanellkissen gebettet.
Seine Beziehung zu Martine gestaltete sich verständlicherweise ein wenig seltsam. Sie waren so gut wie nie für sich allein. Sie gingen nie zusammen essen oder ins Kino, und er lernte auch keine Freunde von ihr kennen. Und doch nahm er an ihrem Alltag teil, eroberte er sich seinen Platz im Kokon ihres Apartments, an ihren Wochenenden, an ihrem Küchentisch. Wenn Mathieu zu Bett gegangen war, redeten sie – meist über den Kleinen –, während sie den Abwasch erledigten oder zusammen ein Glas Wein tranken. Sie gingen zusammen ins Bett, doch meist schliefen sie nur, Martine an seiner Seite, eine Hand auf seine Schulter oder Hüfte gelegt. Erschöpft von der langen Woche, wollte sie sich nur an ihn kuscheln und festgehalten werden, während sie einschlief. Der Sex zwischen ihnen war ritualisiert, zweckmäßig und schnell – was aber keineswegs unbefriedigend war. In der Monotonie lag eine tiefe Tröstlichkeit, die er niemals hätte voraussehen können. Manchmal bat sie ihn, auf Mathieu aufzupassen, während sie ein Bad nahm und
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