In einer anderen Haut
wusste genau, wann sie ihn erreichen konnte – waren
Aussagen
, genau so, als würden sie eine Diskussion führen. In diesem Hin und Her blieb nur die Frage, wer als Erster nachgeben würde – und sein Gefühl sagte ihm, dass es bestimmt nicht Martine sein würde.
Als es passierte, war Mitch bereits über zwei Jahre mit ihr zusammen gewesen. Es war März, doch der Winter wollte nicht lockerlassen, ließ einen Schneesturm nach dem anderen über dem Land niedergehen, als wolle er sich mit einem großen Finale verabschieden. Mitchs Kollegen buchten Kurzurlaube in Florida oder auf den Bahamas, und wenn sie fünf Tage später mit Sonnenbrand zurückkehrten, zogen sie grimmige Mienen, weil der Winter immer noch nicht aufgegeben und den Rückzug angetreten hatte. Mathieu aber liebte den Schnee und schien die Kälte überhaupt nicht zu spüren, wenn er im Park spielte, selbst wenn seine Lippen langsam blau wurden und seine Zähne klapperten. Wenn Martine schließlich darauf drängte, nach Hause zu gehen, bebte er vor Wut, als wolle sie ihm die schönste Zeit seines Lebens nehmen, riss sich los und lief weg. Und wenn sie ihn eingeholt hatte, schlug er mit seinen Fäusten wahllos auf sie ein, womit er ihr gleichermaßen körperlich wie seelischwehtat. Wenn sie zu Hause angekommen waren und ihn ins Bett gebracht hatten, war sie völlig fertig. Mitch brachte ihr Tee, strich ihr durchs Haar und hielt sie manchmal in den Armen, während sie weinte.
In seiner Obhut war Mathieu ruhiger. Mittlerweile interessierte er sich nicht mehr für Dinosaurier, sondern für Teilchenphysik, und allmählich hielt ihn Mitch für ein Genie. Er konnte die Prinzipien der Kernspaltung und ihre komplexen Abläufe erklären, wobei es für ihn keine Rolle spielte, ob Mitch selbst etwas sagte oder nicht. Wenn er aber den Raum verließ, wurde Mathieu böse, weshalb er sich darauf verlegte, die Zeitung im Kinderzimmer zu lesen, während der Junge seine Vorträge hielt.
Es war kein perfektes Leben. Ihm war klar, dass Martine sich etwas anderes vorgestellt hatte, aber ihr Leben hatte durchaus seine eigene Wärme, seinen eigenen Puls und seine eigenen Freuden.
Eines Samstags gingen sie zusammen in den
Biodome
, einen Hallenzoo, der vier verschiedene Lebensräume und die dazugehörige Flora und Fauna beherbergte; man konnte von einer Halle in die andere wechseln, von tropischer Feuchtigkeit in arktische Kälte. Wie immer hoffte Martine darauf, dass diese neue Erfahrung Mathieus Interesse für andere Dinge wecken würde. Und zunächst lief auch alles bestens. Die feuchtwarme Luft gab ihnen regelrecht das Gefühl, im Urlaub zu sein. Sie spazierten durch den Regenwald, erspähten tropische Vögel hoch oben in den Bäumen und große Wasserschweine in den Flussläufen unter sich. Mathieu ging an Martines Hand, ohne sich zu beschweren. Dann entdeckte er etwas im dichten Laubwerk über ihnen – ein über die Äste huschendes Löwenäffchen, dessen goldgelbes Fell zwischen den Blättern aufblitzte. Mathieu wollte es anfassen, mit ihm spielen, es mit nach Hause nehmen. Geduldig erklärte ihm Martine, dass der Affe kein Haustier war, das man kaufen konnte, und in einer Wohnung unglücklich sein würde, weil es dort keine Bäume gab und für ihn viel zu kalt war.
Keins ihrer Argumente kam bei ihm an. Stattdessen schrie er weiter
«Singe! Singe!»
und Mitch fragte sich, ob Mathieu den Affen nicht nur unbedingt haben wollte, sondern sich irgendwie mit ihm identifizierte, sich selbst dort oben sah, wild, widerspenstig und ungezähmt.
Die Familien um sie herum verzogen sich schleunigst, damit der kreischende Junge ihre Kinder nicht mit seinem Verhalten ansteckte. Mitch versuchte, Mathieu auf andere Gedanken zu bringen, indem er ihm von den Schlangen im nächsten Raum erzählte, doch vergebens. Dann beging er den schlimmsten Fehler von allen, einen Fauxpas, der ihn noch wochenlang beschäftigen sollte: In der Hoffnung, Mathieus Aufmerksamkeit ablenken und ihn in eine andere Richtung steuern zu können, ergriff er ihn an der Schulter, doch der Junge schrie noch lauter, riss sich von ihm los und rannte weg. Als Martine ihn festhalten wollte – in solchen Momenten entwickelte er ungeahnte Kräfte –, stieß er sie mit aller Gewalt zurück; sie stürzte über das Geländer hinter ihnen auf einen steilen Felsabhang, fand keinen Halt und rutschte ungebremst hinunter. Während entsetzte Aufschreie erklangen und Leute auf sie zeigten, griff Mitch instinktiv nach Mathieu.
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