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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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ist im Schnee ohnmächtig geworden», sagte er in jenem leisen, fast emotionslosen Tonfall, der so vielen Inuit eigen war, so gleichmütig, dass Mitch einen Moment lang brauchte, umzu begreifen, auf welches Grauen die Worte seines Gegenübers zusteuerten. «Als sie aufgewacht ist, war die ganze Welt weiß. So hat sie’s jedenfalls gesagt. Meine kleine Schwester ist dabei gestorben. Kann sein, dass sie meine Mom ins Gefängnis stecken, aber im Augenblick liegt sie noch im Krankenhaus. Sie konnte fast gar nichts mehr sehen, deshalb war alles so weiß. Die Ärzte wissen nicht, was mit ihren Augen passiert ist. Sie hat auch ein paar Finger und Zehen verloren, aber das macht ihr weniger Sorgen als ihre Augen. Alles war weiß. Sie sagt, das wäre merkwürdig, weil erst alles schwarz war, als sie aufgewacht ist. Plötzlich war sie blind.»
    «Das tut mir leid, wirklich leid», wiederholte Mitch, und der Junge nickte. Er hatte ruhig und gefasst gesprochen, ohne Tränen oder Zorn; seine Gefühle spiegelten sich lediglich in seinem nervösen Gezappel und dem Kauen an seinen Nägeln. Die Tür des Sprechzimmers stand nach wie vor offen. Schritte und Stimmen drangen vom Korridor herein; anscheinend wartete draußen jemand mit einem regulären Termin.
    Thomasie lehnte sich zurück, als sei er völlig erschöpft, und lutschte an seinem blutigen Fingernagel.
    «Wie hieß deine Schwester?», fragte Mitch.
    Der Junge blickte auf seine Schuhe und inspizierte sie eine Weile. «Karen», sagte er schließlich, ehe er erneut in Schweigen verfiel. Dann sagte er, den Blick immer noch auf seine Schuhe gerichtet: «Manchmal träume ich von ihr. Sie steht allein im Schnee. Es ist, als wäre sie im Himmel … aber nicht wirklich, weil es so kalt und ungemütlich ist. Sie sagt dann immer, ich soll zu ihr kommen, und ich versuch’s auch, aber es geht nicht. Und dann wache ich auf.»
    Mitch nickte. «Du wünschst, du hättest ihr und deiner Mom helfen können.»
    Thomasie zuckte mit den Schultern. «Ich war so oft bei meiner Mutter im Krankenhaus, da haben sie mich zu Ihnen geschickt.»
    «Ich freue mich, dass du gekommen bist», sagte Mitch. «Tja, dann lass uns mal ein paar neue Termine ausmachen.»
    «Können Sie mir was verschreiben?», sagte der Junge. «Ich kann nicht einschlafen.»
    Mitch errötete. «So ein Arzt bin ich nicht.»
    «Ein Freund von mir hat aber auch Pillen bekommen, als sein Dad gestorben ist.»
    Mitch lehnte sich zurück. «Ich würde dir gern helfen», sagte er, und Thomasie sah auf. «Wir können einen Psychiater hinzuziehen und klären, ob in deinem Fall Medikamente gerechtfertigt sind. Aber wir beide werden hauptsächlich miteinander reden und versuchen, das aufzuarbeiten, was du erlebt hast.»
    Der Junge war bereits aufgestanden. «Okay», sagte er mit so monotoner Stimme, dass weder Zustimmung noch Ablehnung durchklangen. Ehe Mitch ihn bitten konnte, noch kurz zu warten, öffnete er die Tür und lief hinaus; seine Turnschuhe quietschten auf dem Linoleum. Kurz darauf trat ein Mann mittleren Alters ein, der sich lauthals beschwerte, es könne doch wohl nicht wahr sein, dass man ihn wegen «eines bekloppten Streits» mit seiner Frau zu einem Besuch beim Psychotherapeuten verdonnert habe. Mitch hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn zu beruhigen, und bald war er ganz auf die neue Geschichte, die neue Krise konzentriert. Dann aber stach ihm etwas Rotes ins Auge, als er aus dem Fenster sah – Thomasie Reeves’ Windjacke, die sich deutlich gegen den grauen Parkplatz abhob, während der Junge, den Kopf wegen des Winds tief zwischen die Schultern gezogen, mit schnellem Schritt davoneilte.
    Der Rest des Tages verlief ganz normal, die üblichen Abhängigen, Arbeitslosen, Zwangsgeräumten. Eine Elendssaga nach der anderen, aber er war daran gewöhnt. Er wusste, wie man derartige Geschichten in ihre Bestandteile zerlegte und neu zusammenzusetzen begann. Sein Berufsverständnis bestand darin, seinen Patienten so behutsam wie möglich den Druck zu nehmen, der sie zu ersticken drohte. Als junger Mann hatte er sich als Heilsbringer betrachtet und mit seiner Überzeugung auch Grace angesteckt. Mittlerweileglaubte er an breit angelegte Statistiken und kleine, gezielte Schritte. Seine Arbeit begeisterte ihn nicht mehr so wie früher, aber er hatte mehr Vertrauen in seine Fähigkeiten und schlief auch besser.
    Um sechs packte er seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Die Klinik war ein stiller, düsterer Bau

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