In einer anderen Haut
Schoß ihrer Mutter und Thomasie, der neben den beiden saß; alle drei trugen weiße Rollkragenpullover und Wolljacken, und im Hintergrund stand ein Weihnachtsbaum.
Ein paar Tage später stand Thomasie im Türrahmen von Mitchs Sprechzimmer. Er trug dieselben Sachen wie beim letzten Mal, und seine Lippen waren immer noch genauso rissig.
«Komm rein, setz dich», sagte Mitch ruhig. «Na, wie steht’s?»
«Meiner Mom geht’s immer schlechter», sagte der Junge. «Sie liegt im Koma oder so was. Ich glaube, sie will einfach nicht mehr aufwachen.»
«Ich glaube nicht, dass man das selbst bestimmen kann», sagte Mitch.
«Für mich sieht’s so aus», sagte der Junge.
«Was sagen die Ärzte?»
Thomasie schien so darauf zu brennen, Mitch zu erzählen, weswegen er hergekommen war, dass er seine Frage offenbar nicht registrierte. «Die haben gesagt, ich soll sie nicht mehr so oft besuchen. Dass ich lieber zu meinem Vater ziehen soll.»
Mitch hatte keine Ahnung, was gegen die Krankenhausbesuche des Jungen sprach, aber vielleicht war ein wenig Luftveränderung gar keine so schlechte Idee. «Und?», fragte er. «Wäre das nichts, ein paar Tage unten im Süden?»
Thomasie krempelte den einen Ärmel seiner Windjacke hoch und hielt ihm seinen Unterarm hin. In seiner Ellenbeuge befand sich ein Wirbel weißen, erhabenen Narbengewebes. «Mein Vater», sagte er.
Mitch zerriss es das Herz. «Hast du jemandem davon …»
Der Junge schüttelte den Kopf. «Das ist Privatsache», sagte er.
Mitch versuchte seine Gedanken zu ordnen. Bei seinem letzten Aufenthalt war Thomasie wahrscheinlich eins der kleinen, scheinbar so ausgelassenen Kinder gewesen, die er auf der Straße beim Spielen gesehen hatte – und sein Vater, an den Mitch sich nicht erinnern konnte, wohl ein Teenager, der zu früh Vater geworden war und nach dem Basketballtraining seine Wut an seinen Kindern ausgelassen hatte. Mitch hatte eine ganze Reihe von Leuten in Iqaluit kennengelernt, die arbeitslos waren und kein Geld hatten, sich aberaufopferungsvoll um ihre Angehörigen kümmerten, Verwandten in Not Obdach gewährten und ihr letztes Erspartes zusammenkratzten, um Schulsachen für die Kinder kaufen zu können. Doch hatte er auch Familien kennengelernt, in denen die Dinge aus dem Ruder gelaufen waren. Dazu brauchte es lediglich eine Generation, die aus der Art schlug, und manchmal gab es dann kein Zurück mehr, insbesondere für die Kinder. Thomasie war offenbar in einem derartigen Elternhaus aufgewachsen – dagegen sprachen allerdings seine Ausdrucksweise und sein freundliches Wesen, ganz zu schweigen davon, dass sich Kids aus zerrütteten Verhältnissen selten an jemanden wie Mitch wandten, weil sie dadurch bloß an ihr eigenes Elend erinnert wurden.
«Können Sie nicht mit den Ärzten reden?», sagte Thomasie. «Damit ich nicht zu meinem Vater muss?»
«Warum?», gab Mitch zurück. Er klang schroff, ja, fast grausam, aber er wusste nicht, was der Junge von ihm erwartete. Im selben Moment schämte er sich, während Thomasie ihn aus arglosen dunklen Augen ansah. «Na gut», lenkte er ein.
Der Junge nickte, sprang urplötzlich auf und lief aus dem Zimmer, als befürchte er, Mitch könne es sich doch noch anders überlegen.
Bis zum nächsten Termin blieb noch ein wenig Zeit. Er sah aus dem Fenster, den Blick ins Leere gerichtet, und dachte nach. Der Junge hatte etwas Fiebriges an sich, eine Art unterdrückter Intensität, die sich zweifelsohne seinem Kummer verdankte. Mitch war bewusst, dass er auf einen hochexplosiven Konflikt zusteuerte, der unmöglich leicht oder befriedigend zu bewältigen war, und der Gedanke erfüllte ihn mit demselben erregenden Risikogefühl, das andere beim Konsum von Drogen oder beim Drachenfliegen empfinden mochten. Wenn sie sich in die falsche Frau verliebten. Wenn sie sich in die richtige Frau verliebten.
Seine Gedanken schweiften zu Martine und Mathieu, zu glücklicheren Tagen, den langen Wochenenden, an denen sie über Dinosgefachsimpelt und Frisbee gespielt hatten. Sie fehlten ihm, doch seine Sehnsucht hatte weniger mit der Entfernung zu tun als mit seiner unstrittigen Befähigung, alles komplett und unwiderruflich zu versauen, egal, wie gut seine Absichten auch sein mochten. Sie hatten immer noch nicht miteinander gesprochen. Sie bestrafte ihn dafür, dass er den Job hier oben angenommen hatte, für alles, was vor seinem Abschied passiert war. Es war, als führten sie eine Unterhaltung. Seine Abreise und ihr Schweigen – sie
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