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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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dabei eine Zeitschrift las. Es war, als ob sie die Flirtphase übersprungen hätten und direkt zum alten Ehepaar mutiert wären.
    So ging das ein Jahr und dann noch eins. Martines Familie lernte er nicht kennen, obwohl ihre Eltern in Montreal North lebten und ihre Schwester keine fünf Straßen entfernt wohnte. Irgendwie hatten sich bestimmte Regeln etabliert, ohne dass sie je diskutiert worden wären. Weiterhin trafen sie sich nur an den Wochenenden, selbst im Sommer – außer im August, wenn sie den Urlaub in Maine verbrachten, wo Mitch und Mathieu am Strand Frisbee spielten und in die Wellen sprangen.
    Ab und zu fragte er sich, warum er diese Gegebenheiten tolerierte, und kam stets zu denselben Schlussfolgerungen. Doch so seltsam ihre Beziehung auch sein mochte, bestand zunächst einmal kein Zweifel, dass Alleinsein schlimmer – tausendmal schlimmer – war. Und auch wenn er es gegenüber Martine nie artikulierte, war erfest davon überzeugt, dass er irgendwann mehr als der Spielgefährte ihres Sohns und ihr Wochenendtröster sein würde, wenn er nur lange genug dranblieb. Schließlich würde sie nicht mehr auf ihn verzichten können. Darauf zählte er.

    Thomasie Reeves kam eine Woche später wieder. In der Zwischenzeit hatte Mitch sich in seinem neuen Domizil häuslich eingerichtet, Lebensmittel besorgt und die Küchenvorräte aufgestockt; außerdem war er ein paarmal im Ort gewesen, um die Leute wissen zu lassen, wer er war und wie lange er bleiben würde. Er wurde ungewöhnlich höflich, aber gleichzeitig auch ein wenig reserviert empfangen; die Einheimischen waren daran gewöhnt, Menschen wie ihn kommen und gehen zu sehen.
    Wie sich herausstellte, glänzte Johnny zuweilen mit längeren Abwesenheiten, um dann unvermittelt wieder aufzutauchen. Manchmal bekam Mitch drei Tage lang nichts von ihm zu sehen, und dann stand er urplötzlich in der Küche, fragte Mitch, ob er ihm auch ein paar Spiegeleier braten sollte, und redete wie ein Wasserfall über irgendeine Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte. Gelegentlich brachte er eine der Frauen mit nach Hause, und dann traf Mitch morgens eine Fremde an, die im Wohnzimmer schläfrig ihre Schuhe anzog und ihn verlegen mit einem verkaterten Winken begrüßte. Zuletzt hatte er einen Mitbewohner gehabt, als er neunzehn gewesen war, aber in Wahrheit hatte er ganz und gar nichts gegen ein bisschen Leben in der Bude. Ein paarmal verbrachte er die halbe Nacht mit Johnny, der zum Brüllen komische Anekdoten über seine Verwandtschaft in Neufundland zum Besten gab, die aber so lang und kompliziert waren, dass Mitch sich am nächsten Morgenan so gut wie nichts mehr erinnern konnte. Johnny war ein Selbstdarsteller, ein echter Geschichtenerzähler, und der Umstand, dass er sich für andere nicht interessierte, war Mitch nur recht, da er keine Lust hatte, etwas von seinem Leben in Montreal zu erzählen.
    Mit Martine hatte er immer noch nicht gesprochen. Er hatte ihr mehrere Nachrichten hinterlassen, und einmal – obwohl ihr klar gewesen sein musste, dass er um diese Uhrzeit bis über beide Ohren in Terminen steckte – hatte sie zurückgerufen und ihm auf die Mailbox gesprochen, dass alles in Ordnung sei und sie sich freue, dass er gut angekommen war. Trotzdem, es war offensichtlich, dass ihre Beziehung in die Binsen ging. Über seine Gefühle war er sich nicht so im Klaren. Hauptsächlich war er froh, dass er so viel Distanz zwischen sich und die Probleme zu Hause gelegt hatte. Er versuchte sich nicht allzu viele Sorgen um Mathieu zu machen. Der Junge war stur, aggressiv und auf seine eigene Weise emotional, aber nicht sehr gefühlsbetont. Was bedeutete, dass er zwar an Mitch hing, ihn aber wohl kaum vermissen würde, wenn er nicht da war. Zumindest hatte Mitch es sich so zurechtgesponnen.
    Er fragte in der Klinik wegen Thomasie Reeves herum, doch alle schüttelten bloß den Kopf und sprachen davon, was für ein überaus trauriger Fall das sei, doch darüber hinaus wollte sich niemand äußern. Jedes Gespräch über Thomasie endete unweigerlich in Schweigen. An einem freien Nachmittag ging er in die Bibliothek und fragte eine der Mitarbeiterinnen, ob sie ihm weiterhelfen könne. «Gloria Reeves», erwiderte sie seufzend und wies ihm den Weg ins Zeitungsarchiv. Das kleine Mädchen, Karen, war drei Jahre alt gewesen. Sie hatte sich unter dem Mantel an der Brust ihrer Mutter zusammengerollt; so hatte man sie gefunden. Ein Foto zeigte die Familie auf einem Sofa, Karen auf dem

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