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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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unhöflich sein wollten.
    Also blieb ihm durchaus die eine oder andere freie Minute. Er blickte aus dem Fenster hinaus auf den Parkplatz, wo ein paar Vögel im Abfall herumpickten, der aus einer überquellenden Mülltonne gefallen war; außerdem schien eine Pfütze ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben, die verdächtig nach Erbrochenem aussah. Hinter ihm klopfte es, und als er sich umwandte, erblickte er einen Jungen von vielleicht siebzehn, der in der Tür stand. Er war auffällig dünn, hatte dunkle Augen, schlaff herabhängendes schwarzes Haar und so dunkle Lippen, dass sie wie gemalt aussahen. Er trug eine verdreckte rote Windjacke.
    «Hey», sagte Mitch. «Kann ich dir helfen?»
    Der Junge leckte sich über die rissigen Lippen. «Die haben mich hergeschickt», sagte er.
    «Wer?»
    «Die Leute von unten.»
    «Welche Leute?»
    Die Antwort des Jungen bestand in einem vagen Schulterzucken. Mitch deutete auf einen Stuhl und fragte nach seinem Namen.
    «Thomasie.»
    Der Junge setzte sich. Er hatte ein rundliches Gesicht und hoheWangenknochen; mit den langen Haaren, die ihm in die Augen fielen, sah er aus wie ein Filmstar.
    «Thomasie wie?»
    «Reeves. So heißt mein Vater. Er lebt unten in Sarnia. Da arbeitet er.»
    «Und deine Mutter?»
    «Yeah», sagte der Junge mit eigentümlich lauerndem Blick.
    Während sie miteinander sprachen, blätterte Mitch in den Patientenakten und seinem Terminkalender, fand aber niemanden namens «Reeves». Der Junge saß ihm gegenüber, balancierte die Ellbogen auf den Knien und sah ihn mal verstohlen, mal ausdruckslos an. Dann warf er einen Blick aus dem Fenster und fing an, bedächtig an einem Fingernagel zu knabbern, betrachtete eingehend das abgekaute Stück und schnippte es auf den Boden.
    «Also, was führt dich zu mir?», fragte Mitch.
    Thomasie lächelte freudlos, während er im Schutzpanzer seiner Jacke zu versinken schien. Mitch hatte das Gefühl, dass der Junge ihn einzuschätzen versuchte, dass er beim ersten falschen Wort aufspringen und aus dem Zimmer flüchten würde. Also wartete er ab. Das Schweigen zwischen ihnen wurde lang und länger, und keiner schien es brechen zu wollen.
    Thomasie kramte eine Packung Zigaretten aus seiner Tasche, schüttelte eine heraus, tippte sie gegen seine Handfläche, steckte sie hinters Ohr und räusperte sich. Als er den Blick auf Mitch richtete, sah er seltsam ehrlich und aufrichtig, beinahe unschuldig aus. «Sie sind neu», sagte er.
    «Stimmt. Ich bin gerade erst angekommen. Aber ich bin schon mal hier gewesen.»
    Thomasie nickte. «Ja, hat mein Vater auch gesagt. Er hat damals in Ihrem Basketballteam gespielt. Aber jetzt ist nichts mehr mit Basketball. Da gibt’s jemanden, der so ’ne Art Abenteuerklub macht, aber die meisten Kids bleiben lieber zu Hause und spielen Videospiele.»
    Erneutes Schweigen. Mitch versuchte sich an einen Jungen namens Reeves zu erinnern, aber von den meisten hatte er nur die Vornamen gekannt – die Mannschaft war ein Bündel nervöser pubertärer Energie gewesen, und er hatte jede Trainingsstunde damit verbracht, wenigstens so viel Begeisterung fürs Spiel zu entfachen, dass sie sich nicht pausenlos in die Haare gerieten. Im selben Moment ging ihm siedend heiß auf, dass er sich auch an die meisten Vornamen nicht erinnern konnte.
    «Und was kann ich für dich tun?», fragte er schließlich.
    Thomasie lächelte abermals. Allmählich begann Mitch die leere Geheimnistuerei seines Lächelns auf die Nerven zu gehen. Er rieb sich die Schläfen und ermahnte sich, geduldig zu bleiben. Der Whiskey vom Vorabend machte ihm leicht zu schaffen.
    «Na, das wissen doch alle», erwiderte der Junge. «Ich dachte, Sie wüssten es auch.»
    Erwartungsvoll hielt er inne, doch Mitch hatte weder eine Patientenakte noch die geringste Ahnung, was vorgefallen sein mochte. Er schüttelte den Kopf, und Thomasie sah zu Boden. Offenbar hatte er darauf gehofft, dass es ihm erspart bleiben würde, die ganze Geschichte erzählen zu müssen.
    «Meine Mutter ist im Krankenhaus», sagte er. «Schon eine ganze Weile.»
    «Das tut mir leid», sagte Mitch. Als der Junge nicht fortfuhr, fügte er hinzu: «Was ist denn passiert?»
    «Sie war auf einer Feier, zusammen mit meiner kleinen Schwester. Na ja, jedenfalls gab’s einen Sturm, und sie hat’s nicht nach Hause geschafft.»
    «Was meinst du damit?»
    Thomasie kaute an einem weiteren Fingernagel herum, ehe er antwortete. Sein rechtes Knie bewegte sich wie ein Presslufthammer auf und ab. «Sie

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