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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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stattgegeben. Vor allem wollte er den verständnisvollen, nachsichtigen Blicken entkommen. Noch so ein Weichei aus dem Süden, schienen die Einheimischen zu denken. Sie hatten nicht erwartet, dass er länger bleiben würde, und trugen es ihm nicht nach, dass er wieder wegwollte. Hätte ihm jemand Vorwürfe gemacht, wäre es ihm vielleicht sogar möglich gewesen, zu bleiben.

    Als er im August nach Montreal zurückkehrte, lag sengende Hitze über der fast menschenleeren Stadt. In seiner Wohnung fühlte er sich wie in der eines Fremden. Mehrmals war er drauf und dran, Martine anzurufen, legte aber jedes Mal wieder auf. Obwohl ihm Urlaub zustand, ging er zur Arbeit, da ihm nur allzu bewusst war, dass er eine feste Struktur und die Gesellschaft von Kollegen brauchte, um den Sommer überstehen zu können. So hatte er es während schwieriger Phasen immer gemacht – er hatte freiwillig an den Wochenenden gearbeitet und seinen Tagesablauf genauestens geregelt, damit alles perfekt organisiert war.
    Am Sonntagabend ging er oben auf dem Berg joggen; sein Puls schlug im selben Rhythmus wie die Trommeln, deren gedämpfter Klang vom Cartier Monument zu ihm herüberwehte. Nach den kalten Nächten in Iqaluit empfand er die schwüle, feuchte Luft als Wohltat auf seiner Haut, und seine Muskeln lockerten sich, während er alles ausschwitzte, was ihn innerlich zu vergiften drohte.
    Er hatte geglaubt, er würde nicht schlafen können, verfiel dann aber doch in einen traumlosen, beinahe komatösen Zustand. Als er frühmorgens erwachte, fühlte er sich, als hätte er die Nacht unter Wasser verbracht. Um halb sieben klingelte das Telefon.
    «Sie sind eine Null», sagte eine Frauenstimme am anderen Ende.
    «Wer ist da?»
    Die Frau weinte. Rhythmisches Schluchzen drang an sein Ohr. «Sie hätten ihm helfen müssen.»
    «Wer ist da, bitte?»
    «Ich hoffe, Sie verlieren auch jemanden, den Sie lieben.»
    «Fiona», sagte er.
    «Sie sind eine Null», wiederholte sie und legte auf.
    In seiner Unterwäsche stand er im Wohnzimmer, das Telefon in der Hand, während die Morgensonne hell hinter den Vorhängen schien und die Vögel zwitscherten. Er dachte an nichts, nur an Thomasie Reeves: seine rissigen Lippen, seine rote Windjacke, sein Gesicht, wie es wohl ausgesehen haben musste, als er mit fest entschlossenem Blick auf den Highway getreten war, ins grelle Licht der Scheinwerfer, die, massiv wie Planeten, durch die fahle arktische Nacht auf ihn zugedonnert waren.
    Das Freizeichen ertönte, gefolgt von einem schnellen, hohen Piepton. Mitch war glücklich. Endlich hasste ihn jemand so sehr, wie er es verdiente, und war bereit gewesen, es ihm ins Gesicht zu sagen. Wenigstens gab es einen Menschen auf der Welt, der nicht mit der Wahrheit hinter dem Berg hielt.

4
Montreal, 1996
    Grace war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, als es klingelte. Einen Augenblick lang beschleunigte sich ihr Puls, beseelte sie die kurz aufflackernde, illusorische Hoffnung, dass es Tug war. Vielleicht war er gekommen, um ihr zu erklären, was wirklich passiert war. Um sich bei ihr zu bedanken. Da sie ihm ihren Nachnamen gesagt hatte, wäre es sicher kein großes Problem für ihn gewesen, sie ausfindig zu machen. Sie strich sich die Haare hinter die Ohren, zupfte ihren Pullover zurecht und spürte, wie sie errötete. Im selben Moment knisterte die Gegensprechanlage, und ihr wurde klar, dass es nicht Tug war.
    «Dr. Tomlinson», sagte eine Mädchenstimme. «Ich bin’s, Annie. Ich komme hinauf zu Ihnen.»
    Sie hörte Schritte auf der Treppe, und dann sah Grace, wie Annie Hardwick unsicher, die Hand am Geländer, die letzten Stufen heraufkam, das blasse Gesicht nach oben gerichtet. Sie trug eine dicke Skijacke, die ihre dünne Gestalt kleiner erscheinen ließ, und ging gebeugt unter der Last ihres Rucksacks.
    «Ich habe mir ein Taxi genommen», brachte sie keuchend hervor, als sie auf der obersten Stufe stand. «Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen sollte. Ich muss mich ein paar Stunden hinlegen. Ich kann nicht nach Hause – meine Mom würde die Blutung bemerken, und sie weiß, dass meine Periode jetzt gar nicht fällig ist.»
    «O Gott», sagte Grace und ließ sie herein.
    Das Mädchen zitterte. Unter der Skijacke trug sie ihre Schuluniform, einen kurzen Rock, eine Strumpfhose und einen Baumwollpullover über einer Button-Down-Bluse. Ihr langes Haar hatte sie mit einem dunkelblauen Haarreif nach hinten geschoben. Grace nahm ihr die Jacke ab, führte sie zur Couch und

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