In einer anderen Haut
von ihr! Dauernd spricht sie in dieser Babystimme mit ihr: ‹Was willst du denn, Süße? Ja, komm mal her, meine Süße!› Jedem geistig halbwegs gesunden Menschenwäre doch wohl klar, dass sie Gassi gehen will. Genauso gut könnte Molly ihr ein Schaubild unter die Nase halten.» Er schüttelte den Kopf. «Das treibt mich in den Wahnsinn.»
Den Rest der Sitzung verbrachten sie damit, seine Erwartungen zu diskutieren, sprachen darüber, warum es für ihn so wichtig war, dass seine Frau den Hund «verstand». Morris regte sich derart auf, dass ihm die Haare an den schweißnassen Schläfen klebten, und mehr denn je sah er wie ein kleiner Junge aus. Grace vermutete, dass Molly Platzhalter für seinen eigenen Frust war, dafür, dass er sich verlassen und zurückgewiesen fühlte, weil Suzanne nicht mit nach Montreal gekommen war. Am Ende der Sitzung hatten sie echte Fortschritte gemacht, und auch Morris schien müde, aber glücklich.
Sie war davon so überzeugt, dass sie zunächst kein Wort herausbekam, als er zu ihrer nächsten Sitzung mit einem Hund erschien.
«Da wir schon so viel über sie gesprochen haben, dachte ich, Sie sollten die berühmte Molly mal persönlich kennenlernen», sagte er, und Grace verspürte ein Stechen in ihren Schläfen. Erst drückte sich die Hündin mit dem Rücken an seine Schienbeine, dann legte sie den Kopf in seinen Schoß. Sie war riesig; das zottige schwarze Fell verdeckte ihre Augen. Morris streckte die Hand aus, rubbelte ihre Brust und gab kehlige, liebevolle Laute von sich. Was Grace derart befremdete, dass sie sich kerzengerade aufsetzte und hüstelte.
«Seit Molly in mein Leben getreten ist, hat sich alles verändert», sagte er. «Sie gibt mir das Gefühl, ein besserer Mensch zu sein, und wir verstehen uns blind. Sie gibt mir
Ruhe und Kraft
.»
«Vieles deutet darauf hin, dass Haustiere helfen können, Ängste und Depressionen abzubauen», sagte Grace. «Aber glauben Sie, dass Ihre Ehe …»
«Eine kurze Frage», unterbrach sie Morris, während er seine große Hand zärtlich auf Mollys wuscheligen Kopf legte. «Finden Sie es seltsam, wenn man seinen Hund mehr liebt als seine Ehefrau?»
Grace musterte ihn eingehend. «Ich denke, wir alle wünschen uns manchmal, unsere Beziehungen wären von derselben bedingungslosenZuneigung erfüllt, die wir gegenüber Tieren empfinden.»
Morris schüttelte den Kopf. «Ich habe nicht von Zuneigung gesprochen. Ich
liebe
Molly. Sie ist wunderschön, ein edles Tier. Ihre Existenz auf dieser Erde ist ein Wunder, und ich würde alles tun, um sie glücklich zu machen. Bei Suzanne habe ich nie so etwas gefühlt, nicht mal während unserer Flitterwochen.»
Grace beschloss, lieber behutsam vorzugehen. «Damals haben Sie Suzanne bestimmt in einem» – zuerst kam ihr das Wort
romantisch
in den Sinn, aber dann nahm sie davon doch lieber Abstand –«optimistischeren Licht gesehen.»
«Optimistisch?», erwiderte Morris ungeduldig. «Das habe ich nicht gemeint. Ich liebe alles an Molly – ihre Augen, ihren Körper, die Art, wie sie sich an mich presst, so wie jetzt auch. Sie ist meine Heimat. Sie ist mein
Zuhause.»
Grace ließ ihren Federhalter sinken. Sie wusste, dass sie sich kein vorschnelles Urteil bilden durfte. Und trotzdem war man tagtäglich gezwungen, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen – links oder rechts, richtig oder falsch. «Glauben Sie nicht, Morris», sagte sie leise, «dass es uns leichter fällt, einen Hund zu lieben, weil er keine Widerworte gibt?»
Der große, kindliche Mann, der vor ihr saß, begann zu weinen; es waren die kümmerlichen, krampfhaft hervorgepressten Tränen eines Menschen, der nur selten weint. «Manchmal wünschte ich», sagte er, «Molly und ich könnten ganz für uns sein. Dass Suzanne uns ein für alle Mal in Ruhe lassen würde. Sagen Sie nichts. Ich weiß selbst, dass ich Unsinn rede. Es ist einfach lächerlich.» Er gab ein leises, gequältes Stöhnen von sich, und als der Hund plötzlich auf die Couch sprang, sein Gesicht ableckte und sich auf seinem Schoß wand, lächelte er durch seine Tränen hindurch. «Ich liebe sie», sagte er.
Es ist unmöglich, einen Hund nicht so wie ein Haustier, sondern wie einen anderen Menschen zu lieben. Das wäre so, als würde man von einem Kind erwarten, sich wie ein Erwachsener zu verhalten, oder von seinem Partner verlangen, stets Liebe zu geben, ohne jemals etwas zurückzubekommen, oder stets Liebe zu empfangen, ohne diese je zu erwidern – eine
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