In einer anderen Haut
abweisen können?
In ihrem ersten Jahr als Psychotherapeutin hatte Grace einen Patienten namens Morris Tinkerton, einen Amerikaner, der in Montreal für eine Telekommunikationsfirma arbeitete. Die gesamte erste Sitzung verbrachte er damit, ihr seinen Job bis ins kleinste Detail auseinanderzusetzen, und Grace ging davon aus, dass all diese Informationen irgendwie zum Grund seines Besuchs führen würden, ehe sie begriff, dass es sich lediglich um eine Vermeidungsstrategie handelte,die nichts mit seinem eigentlichen Problem zu tun hatte. In der zweiten Sitzung begann er von seiner Frau Suzanne zu erzählen, einer Uni-Professorin, die daheim in Minneapolis geblieben war. Nachdem er erklärt hatte, dass sie auf dem Gebiet der Gesundheitssoziologie forschte – wer welche Behandlungen bekam und warum –, ging er ebenso weitschweifig auf die Arbeit seiner Frau ein. Grace machte sich Notizen auf einem Schreibblock, während sie sich allmählich fühlte, als hätte sie ein extremer Langweiler bei einer extrem öden Dinnerparty in Beschlag genommen. Sie kam zu dem Schluss, dass sich die beiden über ihr berufliches Engagement sowohl geografisch als auch emotional auseinandergelebt hatten.
Morris war fünfunddreißig, sah aber zehn Jahre älter aus; seine Gesichtszüge waren bereits schlaff und bassettartig, und obwohl sein Poloshirt und die Khakihose seltsam kindlich wirkten, ließ ihn seine Kleidung paradoxerweise noch älter erscheinen. Er sprach mit einem melodischen, fast skandinavischen Akzent und hockte auf ihrer Couch, die Hände auf den Knien, als befände er sich angeschnallt auf einem Autositz. Als er aus heiterem Himmel jemanden namens Molly erwähnte, dachte Grace, dass sie vor Langeweile wohl überhört hatte, dass es noch eine dritte wichtige Person in ihrer Familie gab.
«Nun ja, jedenfalls war ich neulich mit Molly spazieren», sagte Morris. «Dabei habe ich über Suzanne und bestimmte Theorien in ihrer Dissertation nachgedacht.» Und: «Ich mache neuerdings so viele Überstunden, dass mir kaum noch Zeit für Molly bleibt, und das tut mir in der Seele weh.» Derartige Sätze ließen Grace irritiert in ihren Notizen blättern. Hatte er irgendwann ein Kind erwähnt? Eine Schwester oder Verwandte, die bei ihnen wohnte? Oder hatte Morris eine Affäre? Nach jener Sitzung verbrachte sie eine schlaflose Nacht und machte sich Vorwürfe, was für eine armselige und unaufmerksame Therapeutin sie war.
Dann aber ging ihr auf, dass System dahintersteckte, dass seine Gedanken hinter der Fassade aus steifem Habitus und einstudierterGelassenheit unablässig um ein Trauma kreisten, dem man sich nur auf Umwegen nähern konnte. Ein Trauma, das – sie begriff es in der dritten Sitzung, als er eine Leine und einen Park erwähnte – irgendwie mit einer Hündin namens Molly zusammenhing.
«Erzählen Sie mir mehr von ihr», sagte Grace. «Wie ist sie denn so.»
Im ersten Moment sah Morris sie an, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Er zog die Wangen zwischen die Zähne, schnappte mühsam nach Luft. Dann ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen, starrte mit feuchten Augen auf das Plakat hinter ihr wie auf einen fernen Horizont. «Als wir sie bekommen haben, war sie noch ein Welpe, nur ein kleines Fellbündel, nicht viel größer als ein Nadelkissen. Ehrlich, das können Sie sich nicht vorstellen. Inzwischen wiegt sie beinahe so viel wie Suzanne. Fast 45 Kilo. Klar, eine Menge davon ist natürlich Fell. Würde man sie rasieren, wären es bestimmt gleich fünf Kilo weniger.» Er lachte bei dem Gedanken, leise und herzlich, als hätte er schon öfter darüber nachgedacht.
«Also kümmern Sie sich hauptsächlich um den Hund?», sagte Grace.
«Ich?», sagte Morris perplex. Ihre Wortwahl schien ihm gegen den Strich zu gehen, da seine sonst stets so beherrschten Hände plötzlich nervös aufflatterten, ehe sie wieder wie große fahle Motten in seinen Schoß zurücksanken. «Irgendwie schon. Obwohl es mir eher so vorkommt, als würde sie sich um mich kümmern. Wenn ich abends nach Hause komme, gehen wir zusammen in den Park und spielen Stöckchenbringen, und wenn wir wieder zu Hause sind, machen wir es uns zusammen auf dem Sofa gemütlich – und wenn sie dann neben mir liegt, fühle ich mich jedes Mal, als ob es eigentlich sie ist, zu der ich nach Hause komme.»
«Und was ist mit Suzanne?», fragte Grace.
«Sie versteht Molly nicht», platzte er mit ungewohnter Heftigkeit heraus. «Sie hat keine Ahnung
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