In einer anderen Haut
die er nicht richtig deuten konnte. Er war nicht sicher, ob sie ihm vorhielt, dass er nicht schon eher die Initiative ergriffen hatte, oder ob sie ihm durch die Blume zu verstehen geben wollte, es gut sein zu lassen. Vielleicht beides.
«Er ist ja nicht allein», sagte sie schließlich.
Mitch spürte, dass sie sich herabgesetzt fühlte. Es war, als würdeer sie alle enttäuschen, all diese Frauen, die ihr Bestes taten, um die Welt um sich herum zusammenzuhalten. «Gott sei Dank», bemerkte er, womit er wiederum das Falsche gesagt hatte, da sie die Stirn runzelte und Thomasie ein leises Schnauben von sich gab.
Fiona stand auf, fragte ihn halb schulterzuckend, halb pflichtbewusst, ob sie ihm einen Tee anbieten könne, und verschwand in der engen Küche, um Wasser aufzusetzen. Thomasie hatte die Tüte mit den Keksen auf den Boden gestellt und kaute versonnen, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet. Er hatte in den letzten Minuten rapide abgebaut, war nicht nur high bis unter die Hirnschale, sondern schien zu keinerlei Kommunikation mehr fähig zu sein – es war, als hätte er komplett aufgegeben.
Mitch beugte sich vor, versuchte irgendwie zu ihm durchzudringen. «Das mit deiner Mutter tut mir leid», sagte er. «Wie war sie denn so?»
Langsam und sichtlich mühsam richtete Thomasie den Blick – seine Augen waren rot und glasig – auf Mitch und machte eine vage Geste, als würde er eine Wassermelone in Händen halten. «Klein», sagte er.
Fiona kam mit zwei Bechern zurück. Sie reichte Mitch den einen und Thomasie den anderen, nachdem sie ihn unsanft an der Schulter gerüttelt hatte; sie schien nicht nur Freundin, sondern auch Mutterersatz für ihn zu sein. Während er mal mehr, mal minder weggetreten war, gelang es Fiona und Mitch, ein Gespräch zu führen. Er erfuhr, dass sie seit ihrem dreizehnten Lebensjahr in einem Lebensmittelladen in Iqaluit arbeitete, für ihre schulischen Leistungen mehrfach ausgezeichnet worden war und vorhatte, Jura an der Akitsiraq Law School zu studieren. Ihre Mutter arbeitete ebenfalls in dem Lebensmittelgeschäft, und ihr Vater kümmerte sich größtenteils um den Haushalt. Sie ging offenbar davon aus, dass er dieser Fakten wegen hierhergekommen war, sprach sachlich und nüchtern, klang weder beschämt noch prahlerisch.
Thomasie schlief unterdessen in seinem Sessel ein.
Nach etwa zwanzig Minuten warf Fiona einen Blick auf ihre Uhr. «Sie sollten jetzt gehen», sagte sie.
Mitch nickte, bedankte sich für den Tee und blieb an der Tür stehen, um ihr die Hand zu schütteln.
Während sie seine Hand in der ihren hielt – kühl und trocken fühlte sie sich an –, trat plötzlich ein Funkeln in ihre Augen. «Er ist ziemlich fertig», sagte sie, und nun, mit den hängenden Schultern und dem zierlichen Körper unter dem zu großen Kapuzenshirt, wirkte sie endlich wie ein Teenager. «Könnten Sie ihm vielleicht helfen?»
«Selbstverständlich», antwortete Mitch automatisch. Erst als er auf der Straße stand, wurde ihm klar, dass keine therapeutische Maßnahme der Welt Thomasies Schwester oder seine Mutter zurückbringen, sein Leben nie mehr so wie vorher sein würde. Er hatte das Mädchen nicht anlügen wollen; er hatte nur gewollt, dass sie sich, wenigstens für einen Augenblick, nicht so schrecklich einsam fühlte.
An jenem Abend rief er Martine an. In der vergangenen Woche hatten sie schließlich doch ein paarmal miteinander gesprochen, aber sie war jedes Mal in Eile gewesen und hatte ihre Gespräche schnell beendet. Es gab zu viel Gesprächsstoff, vielleicht auch zu wenig. Er hatte bereits tausend Erklärungen abgegeben, und nun war kein Platz mehr für andere Dinge. Wie schon die Male zuvor erzählte er von den Menschen in Iqaluit, wie sehr ihn die Leute brauchten, welche Erfüllung er in seinem Job fand – alles Lügen oder zumindest maßlose Übertreibungen.
«Das freut mich für dich, Mitch», sagte sie müde.
Eigentlich hatten sie schon vor langer Zeit aufgehört, sich mit ihren Vornamen anzureden, hatten stattdessen Spitznamen undKoseworte verwendet, und als sie nun seinen Namen aussprach, klang es seltsam formell, distanziert, sogar ein wenig verletzend. Er seufzte. «Wie geht es Mathieu?»
«Er hat endlich einen Freund gefunden.»
«Was? Wie ist das denn passiert?» Freundschaft war ein soziales Bedürfnis, das sich Mathieu nie erschlossen hatte.
«Im Ferienlager. Er heißt Luc. Wenn er zu uns kommt, spielt er auf seiner Playstation, Mathieu auf seiner Xbox. Sie
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