In einer anderen Haut
breitete eine Decke über sie.
«Meine Mom sagt, alle Frauen in unserer Familie sind damit so pünktlich dran, dass man die Uhr danach stellen kann», fuhr Annie fort. «Und da wir unsere Regel fast gleichzeitig haben, würde sie sofort merken, dass irgendwas nicht stimmt.»
«Was ist passiert?»
«Ich war beim Arzt», sagte sie. «Und dann habe ich im Telefonbuch nach Ihrer Privatadresse gesehen. Meiner Mom habe ich gesagt, dass ich bei einer Freundin zu Abend esse und um neun wieder zu Hause bin.»
Offenbar hatte sie Krämpfe, da sie sich zusammenkrümmte, die Knie bis ans Kinn zog und zu weinen begann, ohne die Tränen wieder wegzuwischen. «Ich wünschte, ich könnte einfach schlafen gehen», sagte sie mit leiser, seltsam ferner Stimme. «Ich wünschte, meine Mom wäre für mich da.»
Grace setzte sich zu ihr, bettete den Kopf des Mädchens in ihren Schoß und strich ihr übers Haar, bis sie zu weinen aufhörte und schließlich einschlief.
Eine Stunde später wachte Annie wieder auf. Sie schien sich ein wenig erholt zu haben. Sie ging ins Bad, kam nach ein paar Minuten zurück und fragte, ob es etwas zu essen gäbe. Grace machte ihr eine Suppe, die Annie wie ein kleines Kind auf der Couch schlürfte. Dannreichte sie Grace die leere Schale, lächelte und rückte ihren Haarreif zurecht. «Hübsch haben Sie’s hier», sagte sie. «Klein, aber fein.»
«Geht’s dir wieder besser?»
«Ein bisschen.»
«Soll ich deine Eltern anrufen, damit sie dich abholen kommen?»
«Nein. Ich nehme später ein Taxi, okay? Hören Sie, es tut mir echt leid, dass ich aus heiterem Himmel hier aufgekreuzt bin, aber ich wusste wirklich nicht, was ich sonst machen sollte. Ich kann Sie ja bezahlen, für eine Extrasitzung oder so.»
Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, sich den Weg mit Geld zu ebnen. Als Grace schwieg, errötete sie. «Es tut mir leid.»
Sie ließ sich wieder auf das Sofa zurücksinken, machte es sich diesmal fast bequem und begann zu reden, frei von der Leber weg; sie sprach offener über ihre Eltern, als sie es in Grace’ Praxis je getan hatte, über ihre finanziellen Probleme und Streitereien und darüber, dass sie sowieso nicht das Geringste über ihr Leben wussten. Sie sagte, sie täten ihr leid, dass sie wegen jeder Kleinigkeit Stress machen würden und eine bessere Tochter verdient hätten.
«Es ist wie mit Ollie», sagte sie. «Einige von meinen Freundinnen verstehen nicht, warum ich mich mit ihm eingelassen habe, weil er mich manchmal echt mies behandelt. Vor Eltern und Lehrern macht er immer einen auf supernett, und alle kaufen ihm das ab, obwohl er ihnen bloß was vorspielt. Außerdem baggert er andere Mädchen an, und soweit ich weiß, macht er auch mit ihnen rum. Meine Freundinnen meinen, er nutzt mich aus, ich würde für ihn das Opfer spielen oder so was. Aber sie kapieren nicht, dass ich jemanden wie ihn
brauche
, jemanden, der so ist wie ich. Ollie und ich sind zusammen, weil wir sonst normale Menschen verletzen würden. Von den anderen Sachen habe ich ihm nichts erzählt, aber so muss ich wenigstens kein schlechtes Gewissen haben, und das hätte ich bestimmt, wenn ich mit einem netten Normalo zusammen wäre.»
«Was für Sachen?»
«Sachen eben», sagte Annie träumerisch. «Manchmal treffe ich halt andere Typen.»
«Für mich klingt das, als würdest du mit dem Feuer spielen», sagte Grace. «Und das halte ich für keine gute Idee.»
«Nee, echt nicht», sagte Annie. «Schon klar.»
Sie schlief wieder ein, und als Grace sie um halb neun weckte, setzte sie sich abrupt auf. Besorgt runzelte sie die Stirn. «Bin ich zu spät dran?», sagte sie. «Scheiße.»
Vom Telefon in der Küche rief sie sich ein Taxi. «Danke für Ihre Hilfe», sagte sie in unverhohlen unpersönlichem Ton, den Blick auf einen Punkt über Grace’ linker Schulter gerichtet. Einen Moment lang schien sie zu überlegen, ihr die Hand zu schütteln, dann aber wandte sie sich mit einer ruckartigen Bewegung ab, verließ die Wohnung und stürmte die Treppe hinunter.
Grace schenkte sich ein Glas Wein ein. Sie musste sich eingestehen, dass sie einen Riesenfehler begangen hatte. Sie hatte sich von Annie in die Sache hineinziehen lassen, war Teil ihres Geheimnisses, mehr als je zuvor. Sie überlegte, ob sie Annies Eltern informieren sollte, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Das Mädchen hatte geweint, offen mit ihr gesprochen, sich ihr anvertraut. In größter Not hatte sie an ihre Tür geklopft, und wie hätte Grace sie
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