Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
Vom Netzwerk:
Hilary, sie würde sie hinbringen.
    «Und was ist mit mir?», sagte Alan.
    «Musst du nicht arbeiten?» Anne klang unfreundlicher als beabsichtigt.
    «Ich nehme mir einen Tag frei.»
    «Und das Geld?»
    «Ist bloß Geld.» Alan sah sie an, als wäre sie diejenige, die die falschen Prioritäten setzte. «Hier geht’s um das
Baby.»
    «Wenn dir das Baby so am Herzen liegt, wieso hast du dich dann nicht um einen Arzttermin gekümmert?»
    Alan wurde knallrot. Er war ein merkwürdiger Junge, mal umsichtig, mal misstrauisch, und oft schien er eher Hilarys Diener als ihr Freund zu sein. Manchmal bekam er Wutausbrüche, manchmal schmollte er vor sich hin, und an manchen Tagen gab er keinen Ton von sich. Trotzdem sah Anne genau, dass ihm ihre Frage an die Nieren gegangen war, wie mies er sich fühlte. Wie entschlossen er war, das Richtige zu tun, und wie hilflos, den Wunsch in die Tat umzusetzen.

    Er nahm sich den Tag frei, aber Anne bestand darauf, ebenfalls mitzukommen, da sie es für besser hielt, dass eine Erwachsene dabei war. Sie fuhren mit der U-Bahn; Anne suchte Hilary einen Sitzplatz und stellte sich wie eine Leibwächterin vor sie. Im Wartezimmer sammelte sie alle ausgelegten Broschüren ein und steckte sie in ihre Handtasche. Die Klinik wurde von einer Frauenhilfsorganisation betrieben, und überall liefen junge Ärztinnen in selbst gestricktenPullovern mit politischen Ansteckern herum. An den Wänden hingen vergilbte Plakate, die noch aus den Siebzigern zu stammen schienen.
Yo amo la leche
stand unter dem Bild eines glücklich lächelnden Babys. Die meisten Patientinnen saßen mit im Schoß gefalteten Händen da und blickten auf ihre Körper, als warteten sie auf eine Erklärung, wie sie in diesen Schlamassel geraten waren.
    Als eine Krankenschwester Hilarys Namen aufrief, wandten Anne und Alan sofort den Blick zur Tür, während Hilary kaum aufblickte, nur schläfrig nickte und sich behäbig auf die Füße kämpfte.
    Sie wurden in ein winziges Untersuchungszimmer geführt, dessen Wände mit einer trübseligen, halb nach Tee, halb nach Kaffee aussehenden Farbe gestrichen waren; außerdem wirkte der Raum nicht gerade sauber. Anne verspürte einen Anflug von Panik. Was, wenn irgendetwas Schlimmes passierte? Was würde sie tun? Im selben Augenblick wusste sie auch schon die Antwort, die aus ihrem geheimsten, wahrhaftigsten Unterbewusstsein zu kommen schien: weglaufen.
    Alan stand neben Hilary, die sich auf einer Behandlungsliege ausstreckte, und hielt ihre Hand. Er würde ganz bestimmt nicht weglaufen. Er würde vielleicht nicht wissen, was er tun sollte, aber weglaufen würde er nicht. Sie nahm ein paar zerfledderte Exemplare von
Good Housekeeping
und
Redbook –
Zeitschriften, auf deren Lektüre werdende Teenagermütter sicher nicht besonders scharf waren – von einem Stuhl und setzte sich.
    Eine Ärztin kam herein. «Na, hier wird’s jetzt aber eng!», erklärte sie fröhlich. Sie war ungefähr in Annes Alter, eine burschikose junge Frau in Clogs und einem Bleistift in den Haaren.
    «Können wir bleiben?», fragte Anne.
    «Gern, wenn die Patientin nichts dagegen hat», antwortete die Ärztin. Hilary schüttelte den Kopf. «Na, wunderbar. Dann fangen wir doch einfach an.»
    In diesem Krankenhaus machte einem niemand Vorhaltungen,warum man nicht früher gekommen war; eher ging es darum, die Patientinnen zum Wiederkommen zu bewegen. Dementsprechend wurde Hilary von der jungen Ärztin ausdrücklich dafür gelobt, dass sie ganz zweifellos kerngesund war und einen Termin ausgemacht hatte, also praktisch dafür, dass sie sich gern mit Eiscreme vollstopfte und sich regelmäßig die Zähne putzte. Hilary sagte nicht viel und konzentrierte sich auf einen Punkt an der Wand, während sie die Untersuchung mit gespreizten Beinen über sich ergehen ließ. «Alles bestens!», verkündete die Ärztin, streifte die Latexhandschuhe mit einem hörbaren Schnalzen ab und zog das Ultraschallgerät zu sich heran. Und da war es, ein schwarz-weißes Püppchen, das in einer dunklen Lache schwamm. «Die Organe sind gut entwickelt. Finger und Zehen sind auch alle da», sagte die Ärztin. «Wollen Sie das Geschlecht des Babys wissen?»
    «Ja», erwiderte Hilary.
    «Es ist ein kleines Mädchen.»
    Anne, die immer noch auf den Bildschirm sah, hörte plötzlich ein seltsames Geräusch. Dann sah sie, dass Hilary weinte. «Ich habe mir ein Mädchen gewünscht», sagte sie.

    Am Abend desselben Tages hatte sich in dem kleinen Theater in Long

Weitere Kostenlose Bücher