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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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So etwas wie gesunder Menschenverstand scheint ihm völlig fremd zu sein. Und das Schlimmste ist, dass er sich völlig in seinen eigenen Vorstellungen verrennt. Immer muss er seinen Kopf durchsetzen. Meine Frau sagt, das hätte er von mir, und das wäre auch der Grund, warum wir nicht miteinander klarkommen. Aber das sagt sie bloß, damit wir uns weiter um ihn kümmern, selbst wenn er sich noch so schwachsinnig benimmt.»
    Er schien endlos weiter schwadronieren zu wollen. Anne hockte sich auf die Truhe, die dem Sofa gegenüberstand. «Wovon reden Sie eigentlich?»
    Halverson ließ die Hände wieder auf die Knie sinken. «Natürlich von meinem Sohn. Alan.»

    Wie sich herausstellte – sie hätte es ahnen müssen –, war alles, was Hilary über ihre Familie erzählt hatte, frei erfunden. Halverson erzählte ihr die ganze Geschichte, ohne auch nur eine Sekunde seine militärische Haltung zu verändern, und sie glaubte ihm – nicht, weil er ihr überzeugender erschien, sondern weil sie Hilary kannte und früher genau wie sie gewesen war. Sie wusste, wie leicht einem Lügen über die Lippen kamen, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, fortwährend die Unwahrheit zu erzählen.
    Laut Halverson war Hilary, die Tochter seiner Schwester, nie sexuell missbraucht worden und ein nettes, braves Mädchen gewesen. Ihre Eltern hatten eine kleine Farm betrieben, und sie war mit Kühen und Hühnern aufgewachsen, in deren Nähe sie sich anscheinend wohler gefühlt hatte als unter Menschen. Dann aber – sie war zehn Jahre alt gewesen – waren ihre Eltern tödlich mit dem Auto verunglückt, und sie war zu den Halversons gekommen.
    «Es war seltsam, aber es schien ihr überhaupt nicht nahezugehen», sagte er. «Sie hat nie geweint, kaum von ihnen gesprochen. Eine Zeit lang war sie bei einer Psychologin in Hawkington zur Therapie, aber es schien alles mit ihr in Ordnung zu sein. Es ist, als pralle alles an ihr ab, verstehen Sie, was ich meine?»
    Anne nickte. Unbewusst hatte sie Halversons Pose nachgeahmt und saß nun ebenfalls mit den Händen auf den Knien da. Als es ihr auffiel, verlagerte sie ihr Gewicht und schlug die Beine übereinander.
    Halverson musste nicht sonderlich zum Reden ermutigt werden. Er hielt es für seine Pflicht, Anne zu informieren; dafür, dass Anne seiner Nichte Obdach gewährt hatte, war er bereit, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. «Sie hat bei uns gewohnt, bis sie vierzehn war, aber dann lief plötzlich alles aus dem Ruder. Wahrscheinlich spielten ihre Hormone verrückt, ich weiß es nicht. Die Kids in unserer Stadt sind wie Wildkatzen. Im einen Augenblick wirken sie noch ganz normal, und im nächsten sind sie nicht mehr zu bändigen. Völlig außer Kontrolle.»
    Er seufzte. Ihm war anzusehen, dass jetzt der unangenehme Teil der Geschichte kam. «Was ist passiert?», fragte sie.
    «Oh.» Halverson machte eine langsame, vage Handbewegung, als könnte sie daraus bereits alles entnehmen. Als Anne nichts sagte, seufzte er abermals. Sie wusste, dass sie einfach nur warten musste, da die meisten Männer – die meisten Menschen – Stille nicht ertragen können. Und so war es auch. Kaum eine Minute verstrich, ehe er sein Schweigen brach und schneller weiterredete als zuvor.
    «Tja, eines Tages kommt meine Frau nach Hause und erwischt Alan und Hilary im Bett. In ihrem rosa Kinderzimmer! Überall lagen Stofftiere herum. Plüschhasen auf dem Boden. Sie war zu Tode erschrocken. So außer sich, dass sie das ganze Spielzeug in die Mülltonne geworfen hat. Anscheinend konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, dass die beiden es inmitten all dieser Kleinmädchensachen miteinander trieben. Es ging nicht bloß darum, dass sie miteinander verwandt oder so jung waren. Sondern um beides zusammen. Und irgendwie war es alles andere als unschuldig, auch wenn sie noch Kinder waren, verstehen Sie?»
    Anne nickte. Sie wusste genau, was er meinte. Auf sie hatten Hilary und Alan stets naiv und planlos gewirkt, doch als unschuldig hätte sie die beiden nie bezeichnet. Dazu war ihre Beziehung zu körperlich, waren sie beide zu abgebrüht.
    «Ich wollte die Kids noch mal zu dieser Therapeutin in Hawkington bringen. Aber natürlich haben sie sich mit Händen und Füßen gewehrt, und meine Frau war so fassungslos, dass sie sich geweigert hat, überhaupt noch einmal über den Vorfall zu reden. Tja, und Hilary war wegen der Plüschtiere so sauer, dass sie weggelaufen ist. Und seitdem ist sie immer mal wieder ausgerissen.» Er

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