In einer anderen Haut
selbst wie aus großer Entfernung: eine schöne, junge Frau mit wehendem Haar, die Brandung der sanften grauen Wellen im Ohr. Sie genoss es, sich aus der Perspektive einer Fremden zu betrachten, die alles über sie wusste und ihr überaus zugetan war, einer Fremden, die selbst von Weitem sofort erkannte, dass sie etwas Besonderes war.
An einem schwülheißen Sonntagnachmittag im Juli kehrte sie nach New York zurück. In ihrer Wohnung war es überraschend kühl; in beiden Zimmern war eine Klimaanlage installiert worden. Die Rollläden waren heruntergelassen, und nirgendwo brannte Licht. «Hallo?», sagte sie, während sie ihre Taschen abstellte. «Jemand zu Hause?»
Im Schlafzimmer war niemand, und die Lebensmittel im Kühlschrank schimmelten vor sich hin. Die Wohnung wirkte staubig und verlassen; es war ein völlig ungewohntes Gefühl.
Dann hörte sie, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, und plötzlich stand ein Mann mittleren Alters vor ihr, den sie noch nie gesehen hatte.
«Verlassen Sie sofort meine Wohnung», sagte sie instinktiv, «oder ich rufe die Polizei!»
Beschwichtigend hob er die Hände. Er wirkte ängstlich, obwohl er gut gebaut und zweifellos stärker als sie war. Er trug eine Khakihose und ein kurzärmliges Karohemd. «Einen Moment», sagte er. «Sie sind bestimmt Anne.»
«Wer sind Sie?»
«Ned Halverson.» Er hielt inne, erwartete offenbar eine Reaktion, atmete dann aus und ließ die Hände sinken. «Ich bin Hilarys Onkel.»
Anne runzelte die Stirn. Hilarys Nachname war Benson, und einen Onkel hatte sie nie erwähnt. «Wo ist sie?»
Der Mann gab einen Seufzer von sich. «Würde es Ihnen etwasausmachen, wenn ich mich einen Augenblick setze?», sagte er. «Das Treppensteigen bei dieser Hitze macht mich völlig fertig.»
Er ging zur Couch; auf den Kissen lagen die zusammengefalteten Decken, und nun fiel ihr auch ein kleiner brauner Koffer auf dem Wohnzimmerboden ins Auge. Er nahm Platz, saß ganz aufrecht da, die Hände auf den Knien, wie ein Soldat. Dann griff er in seine hintere Hosentasche, zog ein Taschentuch heraus und wischte sich damit über die Stirn.
«Hilary hat mir erzählt, was Sie für sie getan haben», sagte er. «Nun ja, eigentlich hat sie nichts dergleichen gesagt. Sie tut immer so, als würde sie alles selbst schaffen, aber für mich ist sonnenklar, was sie Ihnen zu verdanken hat. Dass Sie den beiden Unterschlupf gewährt haben, ihr und … Alan.» Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er den Jungen nicht ausstehen konnte.
«Wo sind sie?», fragte Anne.
Halverson hob eine Augenbraue. «Eigentlich sollte sie Ihnen eine Notiz hinterlassen», sagte er. «Aber das hat sie natürlich nicht getan, oder? Tja, sie hat sich noch nie etwas vorschreiben lassen.»
Anne blickte sich um. «Ich bin gerade erst nach Hause gekommen», sagte sie.
Halverson schien sich auf dem Sofa ausgesprochen wohlzufühlen; jedenfalls machte er keine Anstalten, sie darüber aufzuklären, was geschehen war. Sie trat an den Küchentresen und ging dann ins Schlafzimmer. Es war ungewöhnlich sauber und aufgeräumt. Das Bett war gemacht. Und irgendwie kam ihr das noch seltsamer als alles andere vor.
Zurück im Wohnzimmer, sagte sie: «Ich sehe nirgends einen Zettel oder Brief. Warum sagen Sie mir nicht einfach, was los ist? Haben Sie Hilary nach Hause gebracht?»
«Ja, natürlich», erwiderte er. «Meine Frau hat die beiden gleich mitgenommen, und ich bin hier, um ihre restlichen Sachen abzuholen. Wir waren krank vor Sorge. Sie ist ja selbst noch ein Kind, verstehen Sie. Wir können uns um sie kümmern, und wenn das Baby erstda ist …» Er breitete die Arme aus. Mit seinem steifen, umständlichen Gehabe und dem bedächtigen Gestus erinnerte er sie an die alten Männer, die im Tompkins Square Park ihre Tai-Chi-Übungen machten. Anne war nicht ganz klar, worauf er hinauswollte; es irritierte sie, dass sich von einer Minute auf die andere alles geändert hatte, und es machte sie zornig, dass sie kein Wörtchen hatte mitreden können. Es musste ein Riesentheater gegeben haben – Hilary wäre niemals freiwillig gegangen –, und sie war außen vor geblieben. Hätte es etwas geändert, wenn sie zugegen gewesen wäre? Hätten sie sich entschiedener gewehrt, um weiter bei ihr bleiben zu können?
«Also, mein Sohn gibt sich wirklich Mühe», fuhr er fort. «Jedenfalls glaube ich das, aber, nun ja, es ist schwer zu sagen, was in seinem Erbsenhirn vorgeht. Manchmal verliere ich einfach die Geduld.
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