In einer anderen Haut
gesagt haben sollte.» Entschuldigend zog er die Augenbrauen zusammen. «Manchmal bin ich echt ein Riesenross.»
«Ein Riesenross?» Es war ein so wenig gebräuchliches Wort, dass sie lachen musste, und als er mit einstimmte, sah sie, dass er große, weiße Zähne hatte. Unterhalb seines Mundwinkels befand sich ein hellbraunes, leicht erhabenes Muttermal, das wie ein Krümel aussah.
«Tja, jedenfalls sagen das meine Freunde.»
«Und wo stecken diese Freunde? In Spanien?»
«Ursprünglich komme ich aus Lissabon, aber momentan arbeite ich in London. In der Telekommunikationsbranche. Ich bin hier auf Geschäftsreise. Jetzt weißt du alles über mich. Und du, Millicent?»
«Ich bin Lehrerin», sagte sie. «Ich bin mit ein paar Schauspielschülern hier.»
«Und wo stecken deine Schüler, Millicent?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Ich habe nicht behauptet, ich wäre eine
gute
Lehrerin.»
Er schüttelte lachend den Kopf. «Du bist ja ganz schön schlagfertig.»
«Unsinn, aber trotzdem danke. Ich muss gehen. Danke für den Drink.» Sie wandte sich ab, doch im selben Moment fühlte sie, wie er sie am Handgelenk ergriff.
«Willst du nicht doch noch ein bisschen bleiben? Deine Schüler kommen bestimmt noch ein paar Minuten ohne dich klar.»
«Tut mir leid», sagte sie. «Ich muss los.»
Sie nahm ihre Handtasche und verließ die Bar, beflügelt von einem Adrenalinschub, der sie wieder klarer sehen ließ. Als er sie draußen eingeholt hatte und an ihrem Ärmel zupfte, war sie keineswegs überrascht, sondern beschleunigte lediglich ihre Schritte. Doch er blieb neben ihr, drängte sie nach links, und nach ein paar Schritten befanden sie sich in einer gepflasterten Gasse, sie mit dem Rücken zur Wand, während er sich seitlich an sie presste. Die Gasse war schmal und dunkel, und obwohl jede Menge Menschen auf der Straße unterwegs waren, würde sie bestimmt niemand bemerken. Sie spürte seine Ringe kalt auf der Haut, als er eine Hand unter ihren Pullover schob. Seine Lippen am Hals, legte sie den Kopf in den Nacken, schob ein Bein zwischen die seinen und rammte ihm das Knie in den Schritt.
«Verdammte Schlampe!» Ein Hauch von Bewunderung schwang in seinem Zorn mit, als er zurücktaumelte. Sie blickten sich an, und im ersten Überraschungsmoment hätte sie problemlos fliehen können, aber sie wollte nicht. Sie war bereit. Als sie die Hand ausstreckte, als wolle sie ihm den Krümel vom Mundwinkel streichen, schlug er ihr mitten ins Gesicht. In ihren Ohren rauschte es, und aus ihrer Nase schoss warmes, dünnes Blut. Ein metallischer Geschmack verbreitete sich in ihrem Mund. Als er zum zweiten Hieb ausholte, hakte sie einen Fuß um seinen Knöchel, brachte ihn zu Fall, zückte ihr Pfefferspray und sprühte ihm eine satte Dosis in die Augen. Stöhnend wälzte er sich auf dem Boden, und sie nahm die Beine in die Hand.
Zurück im Hotel, nahm sie erst einmal eine lange heiße Dusche. Als sie sich abtrocknete, musste sie sich plötzlich übergeben. Ihre Wange war immer noch knallrot. An Hals und Rücken hatte sie ein paar Kratzer.
Als sie in den Pub kam, starrten sie alle an, und auf der Toilette stand sofort Elizabeth hinter ihr. «Bist du okay? Was ist passiert?»
«Ich will nicht darüber reden», sagte sie.
An jenem Abend war sie schlicht brillant. Sie spürte, wie sich die Energie der Truppe verlagerte, sich nun komplett auf sie konzentrierte, die neue Anne, die nichts mehr mit der gehemmten, unsicheren Außenseiterin zu tun hatte, die sie bei der Probe kennengelernt hatten. Während der zwei Wochen in Edinburgh zeigte sie kein einziges Mal auch nur die geringste Schwäche. Ihre Kollegen bewunderten sie, schmeichelten ihr und luden sie dauernd zu Drinks ein. Und alle naselang wurde sie gefragt, was an jenem Nachmittag geschehen war – speziell, als ihre Blessuren deutlich sichtbar wurden –, doch sie schüttelte jedes Mal nur den Kopf.
Den Kick gaben ihr nicht die Verletzungen, die sie davongetragen hatte. Sondern vielmehr der Umstand, dass sie eine Geschichte in der Hinterhand hatte, die allen anderen ein Rätsel war, ihre Weigerung, irgendjemanden in diese Geschichte einzuweihen. Ihre geheime Hochstimmung speiste sich daraus, dass keiner von ihnen sie wirklich kannte.
6
Montreal, 2006
Mitch war seit zwei Wochen zurück in Montreal, als er zum ersten Mal seit Jahren seine Exfrau traf. Es war September und bereits spürbar herbstlich. Das Labor-Day-Wochenende zeigte sich von seiner stürmischen Seite, eine
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