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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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sie damals von seiner Mutter geschenkt bekommen hatten. Gott allein wusste, wann das gewesen war. Sie war bereits seit sieben Jahren tot.
    Er füllte die Teekanne mit Wasser und begann die Pflanzen zu gießen. Grace’ Schlafzimmer befand sich im hinteren Teil der Wohnung; er warf einen Blick hinein, stellte erleichtert fest, dass nirgendwo Pflanzen standen, und ging wieder hinaus. Der nächste Raum war ein typisches Mädchenzimmer mit rosa Bettwäsche, massenhaft Plüschtieren, Büchern und Spielzeug. Auch hier waren keine Pflanzen zu sehen.
    Fünf Minuten später war er fertig und stellte die Kanne exakt an dieselbe Stelle zurück, was angesichts des Chaos in der Küche eigentlich idiotisch war, aber es schien ihm einfach das Richtige zu sein.
    Er fuhr nach Hause zurück. Während er sein Abendessen zubereitete, dachte er an Grace. Als sie einander begegnet waren, hatte er an seiner Doktorarbeit gesessen und als wissenschaftlicher Assistent ein Seminar über Persönlichkeitsfindung geleitet, an dem Grace teilgenommen hatte. Später hatte sie ihm gestanden, dass sie sich bis ins allerletzte Detail an diese Zeit erinnerte – was sie gesagt hatten, wo sie gewesen waren, welche Kleidung sie getragen hatten. Er hatte gelächelt und genickt, obwohl er sich tatsächlich kaum an diese frühen Begegnungen erinnern konnte. In Erinnerung geblieben war ihm Grace’ Arbeit, ihre professionellen, detaillierten Analysen, die um so vieles besser waren als die ihrer Kommilitonen, dass er sich nach der Hälfte des Semesters nicht mehr die Mühe machte, sie zu lesen, sondern ihr automatisch eine Eins gab. Ihre messerscharfe Beobachtungsgabe stand in krassem Gegensatz zu ihrer runden, schnörkelhaften Handschrift. Sie schmückte ihre Is zwar nicht mit Herzen oder Blümchen, schien jedoch zu jenen Mädchen zu gehören, die genau das bis vor Kurzem noch getan hatten. Sie drückte den Stift so fest aufs Papier, dass die Spitze gelegentlich dasPapier durchstieß. Es war die Handschrift einer jungen Frau, die genau wusste, was sie wollte.
    Obwohl er damals geglaubt hatte, er sei depressiv, empfand er seine Zeit als Doktorand im Rückblick als die glücklichste seines Lebens. Die Fragen, die ihn damals umgetrieben hatten, kamen ihm auf einmal wie reiner Luxus vor. War Psychologie
wichtig?
War sie
effektiv?
Brachte sie einen
weiter?
Bis spätnachts zerbrach er sich den Kopf über die verschiedenen intellektuellen und emotionalen Unzulänglichkeiten seines Berufs; Zweifel, mit denen er sich letzten Endes nur darüber hinwegzutäuschen versuchte, dass er sich selbst für unfähig hielt. Als er schließlich seinen Beruf auszuüben begann, verflogen seine Bedenken, und nachts beschäftigte er sich mit seinen Patienten und ihren Problemen, statt über sich selbst zu grübeln.
    Als sein Seminar beendet war, sah er Grace gelegentlich auf den Fluren der Fakultät, ins Gespräch mit anderen Dozenten vertieft. Ab und zu liefen sie sich spätabends am Kaffeeautomaten über den Weg oder griffen um acht Uhr morgens im Uni-Café gleichzeitig nach dem Milchkännchen. Beide führten sie kein eigenes Leben – was also lag näher, als ein gemeinsames in Angriff zu nehmen?
    Er erinnerte sich an überhaupt nichts, was Grace damals zu ihm gesagt hatte, als sie die ersten Male miteinander ausgegangen waren. Er erinnerte sich lediglich daran, wie
er
sich gefühlt hatte, an die Dinge, die er gesagt hatte, die sie zum Lachen oder einem bewundernden Nicken gebracht hatten. Wenn sie bei Kerzenlicht zusammen beim Abendessen saßen, wirkte sie manchmal, als würde sie sich am liebsten alles notieren, was er von sich gab. Im ersten Moment fand er das großartig, doch dann begann es ihn zu irritieren. Wieso merkte sie nicht, dass er gar kein so toller Typ war?
    Doch nachdem sie sich besser kennengelernt hatten, verstand er, dass es schlicht ihre Natur war. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf ihr Gegenüber, auf ihn, so lange, bis er trunken von sich selbst war. Dabei versuchte sie noch nicht einmal, ihn zu manipulieren,sondern interessierte sich aufrichtig für ihn, das war alles. Als ihm das aufgegangen war, begann ihn zu stören, dass sie ihn nicht für ein Genie hielt. Es war unfair, aber er konnte nun mal nicht aus seiner Haut. Er rief sie nicht mehr an, ließ sie links liegen; im Gegenzug lud sie ihn zu sich nach Hause ein, kochte für ihn und erzählte ihm alles über sich, ihre Familie, ihre Kindheit. Dann lotste sie ihn sanft in ihr Bett, und dort, ohne

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