In einer anderen Haut
trockene Hand. «Du siehst aus, als hätte dich ein Bus überfahren.»
«Eigentlich war es ein Honda», sagte sie. Auf ihren Zügen lag der abwesende Ausdruck eines Menschen, der unter dem Einfluss von Schmerzmitteln stand. Hinter ihm räusperte sich Azra. Sie hatte ihren Mantel abgelegt und stellte ein paar Sachen auf einen Tisch am Fenster: Bücher, ein Kissen, einen Teddybär. Grace blickte zu ihrer Freundin hinüber, hatte aber offensichtlich Probleme, den Kopf zu wenden.
«Sarah meinte, du solltest den Bären haben.» Azra hielt das Stofftier hoch. «Er könnte dir ein bisschen Gesellschaft leisten.»
Grace fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. «Wie geht’s ihr?» Ihre Stimme brach, und Mitch schenkte ihr ein Glas Wasser aus dem Krug ein, der auf dem Nachttisch stand.
«Bestens. Eigentlich wollte sie mitkommen, aber ich habe ihr gesagt, dir wäre es bestimmt lieber, wenn sie ihren Schwimmkurs nicht versäumt. Ich bringe sie morgen mit.»
«Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.»
«Jetzt mach aber mal einen Punkt.» Azra lächelte.
«Wer ist Sarah?», fragte Mitch.
Grace sah ihn an. «Meine Tochter.»
Mitch schluckte verblüfft. Es war ihm völlig entgangen, dass sie offenbar wieder geheiratet und eine Familie gegründet hatte. Andererseits hatten sie sich seit der Scheidung in unterschiedlichen Kreisen bewegt und waren einander nie über den Weg gelaufen. Er war derjenige gewesen, der sich von ihren gemeinsamen Freunden zurückgezogen hatte und in eine neue Gegend gezogen war. So war es einfacher gewesen.
«Solange ich hier bin, wohnt sie bei Azra und Mike», fuhr Grace fort. «Und anscheinend versteht sie sich prächtig mit ihnen. Wahrscheinlich will sie gar nicht mehr nach Hause.»
«Wir freuen uns alle, dass sie bei uns ist», sagte Azra.
«Sie hat es immer gehasst, ein Einzelkind zu sein», sagte Grace. Obwohl sie irgendwie traurig zu sein schien, klang sie ruhig und gefasst.
Der Vater wurde mit keiner Silbe erwähnt; Mitch vermutete, dass er keine Rolle mehr spielte. Er merkte, dass ihn beide Frauen erwartungsvoll anblickten. «Kann ich irgendwie helfen?», sagte er, mehr zu Azra als zu Grace.
«Ja, schon», erwiderte Azra. «Das mag sich vielleicht komisch anhören, aber Mike und ich sind berufstätig und haben alle Hände voll mit den Kindern zu tun … Na ja, könntest du bei Grace die Blumen gießen und die Post aus dem Briefkasten nehmen?»
«Selbstverständlich. Wenn es dir nichts ausmacht, Grace.»
Sie wirkte benommen. Fest stand jedenfalls, dass sie in ihrem Zustand wohl kaum Einwände erheben würde.
«Sie wohnt in der Monkland Avenue, ich schreibe dir die Adresseauf», sagte Azra. «Hier, ich habe einen zweiten Ersatzschlüssel dabei. Das ist wirklich nett von dir, Mitch. Danke.»
Damit schien das Gespräch beendet. Abermals drückte er Grace’ kalte Hand. Dann ging er den grünen Korridor hinunter, ihren Schlüssel in der Tasche.
Er fuhr in westlicher Richtung die Sherbrooke Street entlang, vorbei an den dunkelroten Türmchen der Westmount Library. Die untergehende Sonne stach durch die Windschutzscheibe. Überall waren Leute unterwegs, die von der Arbeit nach Hause eilten und sich gegen den Wind stemmten, der Blätter von den Bäumen fegte und sie durch die Luft wirbelte. Obwohl er in dieser Gegend viele Leute kannte, kam er nur noch selten hierher, da er mit diesem Teil seines Lebens abgeschlossen hatte.
Das satte Grün der Bäume vor Grace’ Haus verfärbte sich allmählich gelb. Als er die Stufen hinaufging, erinnerte er sich an die Wohnung, die sie als junges Ehepaar vor all den Jahren bezogen hatten. Es war so aufregend gewesen, die ersten Sachen für den gemeinsamen Haushalt anzuschaffen, Möbel und Teller zu kaufen. Kaum zu glauben, dass sie je so jung gewesen waren. Er legte die Post auf das Tischchen in der Diele, ging in die Küche und sah sich nach einer Gießkanne um. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, auf dem Küchentresen lagen Cornflakes-Schachteln und Müsliriegel herum. Trotzdem war es eine gemütliche Küche. Am Kühlschrank hingen ein paar Bilder, die ein Kind mit Fingerfarben gemalt hatte. Über der Arbeitsplatte hing ein Schulfoto von einem lächelnden Mädchen mit Zahnlücke und großen grünen Augen. Sie sah Grace, die schon als Kind dunkles Haar gehabt hatte, nicht besonders ähnlich.
Da er nichts fand, womit er die Blumen hätte gießen können, kramte er in den Schränken und fand schließlich eine Teekanne, die
Weitere Kostenlose Bücher