In einer anderen Haut
Eine Zeit lang ging sie, durcheinander und gedankenverloren, im Wohnzimmer auf und ab, bis sie plötzlich ihre Mutter vor ihrem inneren Auge sah, so deutlich, als sei sie zu Besuch vorbeigekommen. Zusammengesunken saß sie auf einem Sofa in einem geräumigen Zimmer mit weißem Teppichboden, kaute an ihren Nägeln und weinte leise vor sich hin.
Eigentlich hätte sie das sanfter stimmen und traurig machen müssen, doch stattdessen verschloss sie sich immer mehr. Den Rest des Tages verbrachte sie damit, alle Spuren der letzten sechs Monate zu beseitigen. Sie stellte die Möbel um, räumte den Kühlschrank aus, bezog das Bett neu, rückte es an die gegenüberliegende Wand und schleppte drei große Mülltüten nach unten auf die Straße. Mittlerweile war es neun Uhr abends, und sie war so müde, dass sie auf der Treppe stolperte, als sie wieder nach oben ging. Sie hockte sich auf den dreckigen Treppenabsatz und spürte die Tränen aufsteigen.Sie ließ ihnen freien Lauf, bis sie bis zehn gezählt hatte, dann stand sie auf und ging hinein.
Nun war es also vorbei, dachte sie. So hatte sie es sich nicht vorgestellt.
Natürlich hätte sie hinfahren können, um sich zu überzeugen, dass es ihnen gut ging. Es wäre durchaus eine Möglichkeit gewesen. Aber sie ließ es bleiben. Sie war sicher, dass Halverson, seiner autoritären Aura zum Trotz, sich rührend um das Baby kümmern würde. Sie stellte sich ein Kinderzimmer – Hilarys altes Zimmer? – mit einer Wiege, pastellfarbenen Tapeten und Teddybären vor. Sie bezweifelte, dass Hilary sich bei ihr melden würde, wenn das Baby zur Welt gekommen war. Wäre Anne an ihrer Stelle gewesen, hätte sie es auch nicht getan.
Anne glaubte nicht an die Macht des Schicksals oder daran, dass einem das Universum geheime Signale sendete. Stattdessen war sie davon überzeugt, dass jeder selbst für sein Glück verantwortlich war. Und so zog sie am Tag nach Halversons Besuch ein Top mit tiefem Ausschnitt an, verabredete sich mit einem Regisseur und entlockte ihm die Namen von drei Theaterensembles, die demnächst auf Tournee gehen würden. Dann traf sie sich hintereinander mit den Verantwortlichen der Ensembles, und kurz darauf hatte sie ein Angebot für eine Festival-Tournee durch Schottland in der Tasche. Am Freitag darauf stand sie mit gepackten Sachen am Flughafen, stolz darauf, alles selbst in die Wege geleitet zu haben. Hätte sie jemand nach Alan und Hilary gefragt, hätte sie geantwortet, dass sie sich kaum an ihre Namen erinnern konnte.
Es war ihr erster Trip nach Europa, und seit über zehn Jahren hatte sie keinen Fuß mehr in ein Flugzeug gesetzt. Es verblüffte sie, wie sehr sich die Sicherheitsvorkehrungen verändert hatten; als sie ein Kind gewesen war, hatte es gereicht, wenige Minuten vor Abflug am Gate zu erscheinen. An Bord saß sie neben einer erfahrenen, sarkastischen Schauspielerin namens Elizabeth, die den gesamten Flug lang über die anderen Mitglieder der Truppe lästerte und ihr erklärte, wer sexsüchtig, magersüchtig oder ein Flittchen war. Anne fand diese Informationen durchaus hilfreich, da sich Schauspieltruppen zuweilen als echte Schlangengruben entpuppten, und hatte nichts dagegen, eine temporäre Allianz zu schmieden. Allerdings war sie nicht daran interessiert, irgendetwas von sich selbst zu erzählen, und als ihre Sitznachbarin erst sanft, dann mit mehr Nachdruck zu bohren begann, wich sie weiter aus, so gut es eben ging. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, erzählte Elizabeth ihr eine lange Geschichte, vielleicht wahr, vielleicht frei erfunden, über eine Affäre, die sie mit einem verheirateten Mann gehabt hatte, gefolgt von Depressionen, Alkoholmissbrauch, Heroin, Entzug und «einem aktuellen Faible für Koks und Nikotinpflaster». All das diente natürlich dem Zweck, Anne ihrerseits eine Beichte zu entlocken. In solchen Unterhaltungen war man letztlich gezwungen, etwas von sich preiszugeben.
«Wo bist du denn aufgewachsen?», hakte Elizabeth nach.
«Auf einer Farm», erwiderte Anne. «Nördlich von New York.»
«
Du?
Auf einer Farm? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.»
Anne nickte, während sie durch den Vorhangspalt einen Blick in die erste Klasse zu werfen versuchte. «Ich habe mich um die Hühner gekümmert.»
«Ich sehe dich förmlich mit Zöpfen vor mir, wie du die Eier einsammelst und in einen Korb legst.»
«Ich habe die Hühner zusammengetrieben, wenn sie geschlachtet werden sollten.» Anne rief sich in Erinnerung, was
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