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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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wich ihrem Blick aus und starrte zum Küchentresen, was sie als Scham missdeutete, bis er sich räusperte und sagte: «Ich hätte nichts gegen ein Glas Wasser einzuwenden.»
    Anscheinend hatte Hilary ihre Manieren von ihm. Als sie ihm ein Glas einschenkte, fiel ihr etwas ein. Ihre Frage betraf nicht Alan;sie konnte sich seine Sicht der Dinge recht gut vorstellen, und davon abgesehen hatte er sie nie besonders interessiert. Sie sah Halverson an und fragte: «Was können Sie mir über Joshua sagen?»
    Er schwieg so lange, dass sie fast glaubte, er habe sie nicht gehört. Er saß einfach nur da und starrte ins Leere, das leere Wasserglas auf dem rechten Knie. Er war ebenso verstockt wie Hilary. Vielleicht hatte sie es auch von ihm.
    «Joshua», sagte er schließlich.
    Allmählich war Anne genervt. «Sie schreibt ihm immer wieder», sagte sie. «Postkarten. Sie gibt sie alten Frauen am Bahnhof und bittet sie, die Karten für sie einzuwerfen.»
    Wieder blieb er stumm. Um sich davon abzuhalten, mit den Fingern zu trommeln, senkte sie den Blick und verschränkte die Finger ineinander. Als sie wieder aufsah, schimmerten Tränen in seinen Augen. «Was ist denn?», fragte sie.
    Halverson biss die Zähne zusammen, schluckte. «Er ist ebenfalls bei dem Unfall ums Leben gekommen. Sechs war er damals. Jetzt wäre er wohl so um die zwölf. Das mit den Postkarten wusste ich nicht. Ist das wahr? Es bricht mir das Herz.»
    Sie glaubte ihm.

    Nach einer Weile hatte er seine Fassung wiedergewonnen und ging ins Schlafzimmer, um Hilarys und Alans Habseligkeiten zusammenzupacken. Anne saß im Wohnzimmer, unschlüssig, was sie tun sollte.
    Schließlich kam er mit einer prallen Sporttasche in der Hand wieder heraus. Er stellte sie auf den Boden und streckte die Rechte aus. «Ich möchte Ihnen im Namen meiner Familie für alles danken», sagte er.
    «Warten Sie einen Moment», sagte Anne. «Wie kann ich Sie denn kontaktieren?»
    Er sah sie nur ausdruckslos an.
    «Ihre Adresse und Telefonnummer», sagte sie. «Damit ich mich mit Hilary in Verbindung setzen kann.»
    Er wendete den Blick ab und ließ ihn durch die Wohnung, dann zur Tür schweifen, während er offenbar überlegte, was er tun sollte. Zum ersten Mal kam ihr sein Spießeraufzug – das Karohemd, die beigefarbene Hose, die ordentlich gekämmten Haare – in seiner Akkuratesse sonderbar vor. «Ich weiß nicht so recht, Miss», sagte er. «Das würde Hilary doch nur ermutigen, über kurz oder lang wieder bei Ihnen aufzutauchen. Und damit muss Schluss sein. Sie muss endlich akzeptieren, dass sie eine Familie hat. Es geht auch nicht mehr nur um sie und Alan. Es geht um das Baby.»
    Die Sache mit dem Baby war sozusagen sein Ass im Ärmel, dachte Anne. Sie stellte sich zwischen ihn und die Tür. «Die beiden haben hier fast ein halbes Jahr gelebt», sagte sie, und beinahe hätte sie hinzugefügt,
und meine Familie sind sie auch
. Erst als sie die Worte um ein Haar über die Lippen gebracht hatte, ging ihr auf, dass sie tatsächlich so empfand, und einen Moment lang versagte ihr die Stimme. Aber es war die Wahrheit.
    Doch statt damit herauszurücken, spielte sie eine Rolle – was auch sonst? Sie nahm ihm die Trümpfe aus der Hand, indem sie die Ersatzmutter spielte, die besorgte New Yorkerin, älter, abgeklärter und umgänglicher, als sie eigentlich war. «Ich habe eine Menge für die beiden getan», erklärte sie. «Ich habe sie versorgt und ihnen ein Dach über dem Kopf gegeben. Ich habe ihnen sogar mein eigenes Bett überlassen. Insofern ist ein wenig Entgegenkommen Ihrerseits wohl nicht zu viel verlangt, Mr. Halverson.»
    Er stemmte die Hände in die Hüften, taxierte sie einen Augenblick und lenkte dann ein. «Na schön», sagte er. «Haben Sie was zu schreiben?»
    Sie sah zu, wie er seine Adresse – eine Straße irgendwo auf demLand im Norden des Staates New York – und Telefonnummer notierte. Natürlich war es möglich, dass er sich die Adresse kurzerhand ausgedacht hatte, so, wie sie manchmal irgendwelchen Typen nach dem letzten Drink eine falsche Telefonnummer aufschrieb. Schließlich war Hilary seine Nichte; das Lügen lag ihnen wahrscheinlich in den Genen, so wie ihr auch.
    Sie nahm den Zettel aus seiner Hand. «Ich rufe demnächst mal an», sagte sie.
    Halversons Blick nahm eine metallische Schärfe an. «Tun Sie’s lieber nicht», sagte er.

    Er hatte all ihre Sachen mitgenommen, sogar Alans Hanteln und Hilarys Zeitschriften, und die kleine Wohnung wirkte gähnend leer.

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