In einer anderen Haut
Warnung an alle, dass die Leichtigkeit des Sommers vorüber war. Kids schlurften lustlos in ihren neuen Schulklamotten durch die Straßen, mit gesenkten Köpfen, gebeugt unter der Last ihrer Rucksäcke. Der September war Martines liebste Zeit des Jahres gewesen; ein Monat voller Verheißungen, hatte sie immer gesagt. Wann immer das Telefon klingelte, dachte er, sie würde anrufen. Und obwohl er wusste, dass es nicht sie war, nahm er stets beim ersten Klingeln ab, nur um jedes Mal wieder eine Enttäuschung zu erleben, da doch bloß irgendein Telemarketing-Heini oder sein Bruder aus Mississauga anrief.
Er selbst rief sie nie an, weil er nicht wusste, was er ihr hätte sagen sollen.
Eines frühen Abends überquerte er gerade den Krankenhausparkplatz, als eine Frau mittleren Alters seinen Namen rief. Ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen, starrte er sie mit leerem Blick an. Sie legte eine Hand auf seine Brust. «Azra», sagte sie.
«Du liebe Güte, das tut mir echt leid», sagte er und umarmte sie. Azra war Grace’ beste Freundin, war es zumindest damals während ihrer Ehe gewesen. Sie hatte zugenommen und trug die Haare jetztanders – seinerzeit waren sie lang, dunkel und lockig gewesen, jetzt glatt und rot getönt –, aber ihr Blick, in dem sich ebenfalls leise Verblüffung darüber spiegelte, wie er sich verändert hatte, war immer noch so offen und ironisch wie früher. Sie war immer lebhaft und voller Energie gewesen, als würde ihre Persönlichkeit von einem inneren Kraftfeld gespeist. Sie und Grace hatten stundenlang zusammen in der Küche gesessen, über ihre Zukunftspläne, Männer und Jobs, ihr Sexleben und ihre Probleme mit ihren Eltern geredet. Es hatte ihn immer wieder erstaunt, mit welcher Leichtigkeit sie in die Tiefen eines Themas abtauchen konnten, als gäbe es nicht die geringste Oberflächenspannung.
«Wie geht’s dir?», fragte er nun.
«Oh, na ja, also …», sagte sie, und sie mussten beide lachen. Sie hielt ihn kurz an den Armen fest – sie hatten sich immer gemocht –, bevor sie ihn wieder losließ. «Hast du sie besucht?»
Er folgte ihrem Blick, der sich auf das Gebäude hinter ihr richtete. «Grace liegt hier im Krankenhaus?», fragte er. «Was ist passiert?»
Azra zog eine Grimasse, als sei sie nicht sicher, ob sie ihm wirklich erzählen sollte, was passiert war, doch offensichtlich gab es dafür keinen Grund. Er und Grace hatten hart daran gearbeitet, sich gegenseitig zu vergeben, und auch wenn es ihnen nicht zur Gänze gelungen war, hatten sie beide doch ihr Bestes getan. In den ersten Jahren nach der Scheidung waren sie in Verbindung geblieben, doch schließlich hatten sich ihre Wege endgültig getrennt.
«Sie hatte letzte Woche einen Unfall», sagte Azra. «Ich dachte, du hättest vielleicht davon gehört. An einer roten Ampel an der Jean-Talon ist ihr ein anderer in den Wagen reingeknallt. Dabei hat sie sich ein Bein gebrochen, das Becken und weiß Gott noch was.»
«Du lieber Himmel», sagte Mitch. «Und du besuchst sie gerade? Dann komme ich mit.»
Sie zögerte einen Moment, zuckte dann aber mit den Schultern und nickte. Während sie hineingingen, brachten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Azra und Mike hatten zwei Kinder, und ihreNamen versetzten Mitch den üblichen kleinen Stich, als hätte er etwas Wichtiges in seinem Leben verpasst. Vor Grace’ Zimmer hielt er inne und berührte Azra am Arm. «Am besten, du fragst sie erst, ob sie nichts gegen meinen Besuch hat.»
Dann wartete er draußen auf dem Flur. Er arbeitete in einem anderen Trakt der Klinik und kannte hier kaum einen der Ärzte. Plötzlich ging ihm auf, wie begrenzt sein Wirkungsgrad eigentlich war. Schließlich öffnete sich die Tür, und Azra winkte ihn herein.
«Grace», sagte er.
Niemand sah besonders attraktiv aus, wenn er nach einem Unfall im Krankenhaus lag, und Grace stellte keine Ausnahme dar. Ihr Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, ihre Haut fahl und schlaff. Er registrierte die grauen Strähnen in ihrem kraftlosen braunen Haar. Ihr weiß eingegipstes Bein schwebte wenige Zentimeter über der Bettdecke. Die flauschige rote Socke bildete den einzigen Farbklecks im Raum. Inmitten der Apparate und Schläuche wirkte sie schmal und zerbrechlich. Unwillkürlich musste Mitch an Gloria und Thomasie Reeves, an Mathieus Schulter und Martines Knöchel denken. Es war, als hätte die Welt alle Menschen um ihn herum ihrer Unversehrtheit beraubt. Er schloss die Finger um Grace’ kleine
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