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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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ihn nie verlassen würde, solange sie beide lebten.
    Sie legte eine Hand auf seinen Arm. «Ich kriege das schon hin», sagte sie mit fester Stimme.
    Er nickte, küsste sie auf die Wange, breitete eine Decke über sie und verließ das Haus.

    Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich besser, vielleicht nicht mit sich selbst, aber zumindest mit der Welt im Reinen. Während er noch im Bett lag, kam ihm der Ausdruck
alte Flamme
in den Sinn, eine Redewendung, die von seiner tatsächlichen Beziehung zu Grace meilenweit entfernt lag. Zwischen ihm und ihr brannte überhaupt nichts, wie der gestrige Abend erneut bewiesen hatte. Doch da war etwas anderes, etwas Solides und Dauerhaftes, das sich mehr wie
alte Möbel
anfühlte, die beruhigende Stabilität bewährter Objekte.
    Seit seiner Rückkehr nach Montreal war er meist sofort aus dem Bett gesprungen und erst einmal Joggen gegangen, in der Hoffnung, auf diese Weise dunkle und verstörende Gedanken zu vertreiben. Es war gleichermaßen disziplinarische Maßnahme wie Buße. Heute aber blieb er in seiner Wohnung, trank Tee und las die Zeitung.
    «Na, du Langschläfer?», hatte seine Mutter immer gesagt, wenn er an manchen Schultagen auch nach dem zweiten oder dritten Weckversuch nicht aus den Federn gekommen war. Doch alle paar Wochenenden schliefen sie alle zusammen aus, und dann durften Malcolm und Mitch es sich in der Küche gemütlich machen, während sie ihnen Pfannkuchen und Frühstücksspeck machte.
    Seine Mutter Rosemary war eine patente, tüchtige Frau, die ihn und seinen Bruder allein aufgezogen hatte. Sie arbeitete als Sekretärin bei der Canadian National Railway, und jeden Morgen nahm sie den Bus zur Arbeit, nachdem sie zur Schule gegangen waren. Mitch erinnerte sich immer noch an ihr Parfüm und den grässlichen orangefarbenen Lippenstift, den sie offenbar als unerlässlich für ihren Beruf erachtet hatte. Sie war mit sechzehn von der Schule abgegangen und hatte zunächst im Restaurant ihrer Eltern gearbeitet, beklagte sich aber nie, irgendetwas verpasst zu haben. Ebenso wenig beschwerte sie sich jemals darüber, dass sie nach der Arbeit kochen, sich um die Wäsche kümmern und ihren Söhnen bei den Hausaufgaben helfen musste. «Ihr seid meine guten Jungs», sagte sie oft, wenn sie Malcolm und Mitch zu Bett brachte.
    Und das waren sie auch. In der Schule gab es nie Probleme – sie wären ganz nach ihrem Vater geraten, sagte sie. Bei seinem Tod war Mitch fünf gewesen. Malcolm, der zwei Jahre älter als er war, behauptete, sich genau an ihn erinnern zu können, und wenn ihre Mutter nach dem Zubettgehen das Licht gelöscht hatte, wollte Mitch alles hören, doch Malcolm erzählte mal dies, mal das, stets beeinflusst von irgendwelchen Fernsehserien oder Comics, auf die er gerade abfuhr, sodass Mitch mit der Zeit doch immer stärkere Zweifel beschlichen, auch wenn er seinem Bruder gern Glauben geschenkt hätte. Tatsächlich wussten sie bloß dies: Ihr Vater war 1921 in Winnipeg geboren, hatte während des Zweiten Weltkriegs bei der kanadischen Infanterie gedient und dann ebenfalls eine Anstellung bei der kanadischen Eisenbahn gefunden, eheer Rosemary kennengelernt hatte, mit ihr nach Montreal gezogen war und sie schließlich geheiratet hatten. Er war ein echter Überflieger gewesen, wie seine Mutter des Öfteren betonte, und viel zu jung an einem Herzanfall gestorben – weshalb sie ihnen ein Leben lang in den Ohren gelegen hatte, bloß nie mit dem Rauchen anzufangen.
    All das war für Mitch während seiner Jugend in Stein gemeißelt. Malcolm wurde ebenfalls Ingenieur und zog schließlich nach Toronto. Da er selbst keine Neigung zu technischen Dingen hatte, studierte Mitch Psychologie. Doch als er seiner Mutter eines Tages – es war zu Weihnachten gewesen – erzählte, dass er in seinem Fach auch promovieren wollte, brach sie in Tränen aus.
    Sie saßen an ihrem kleinen Küchentisch, und er starrte sie völlig perplex an. Er war es nicht gewohnt, sie zu enttäuschen, und hatte erwartet, dass sie sich freuen würde; sie war stets stolz auf seine schulischen Erfolge gewesen. «Damit bin ich fast dasselbe wie ein Arzt», sagte er kleinlaut.
    Rosemary schüttelte den Kopf. «Es ist wegen deines Vaters, stimmt’s?»
    Mitch hatte keine Ahnung, wovon sie sprach; mittlerweile dachte er überhaupt nur noch selten an seinen Vater.
    Tränen liefen ihr über die Wangen. «Ich wusste es», sagte sie. «Ich wusste, dass du irgendwann davon erfahren würdest.»
    Er

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