In einer anderen Haut
stand auf und legte den Arm um sie. «Ich interessiere mich einfach für Psychologie», sagte er. «Das ist alles.»
Sie nahm seinen Arm und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. Dann nahm sie seine Hände in die ihren und sah ihm in die Augen. «Dein Interesse an dem, was in anderen Menschen vorgeht, deine Neugier … all das kommt nicht von ungefähr. Du willst verstehen, warum er so etwas getan hat. Aber du bist nicht wie er – das weißt du doch, oder? Und manche Dinge lassen sich einfach nicht erklären.»
In jenem Moment ging ihm ein Licht auf – es war, als hätte er alldie Jahre über ein Bild betrachtet, das umgekehrt aufgehängt worden war, und nun, da es richtig hing, sah er endlich, was es tatsächlich darstellte.
Den Nachbarn hatte Rosemary erzählt, es wäre ein Herzinfarkt gewesen, da sie nicht bemitleidet werden wollte. Außerdem wollte sie nicht, dass über ihre Jungs geredet wurde; stets hatte sie sich instinktiv vor Malcolm und Mitch gestellt. Nun aber erkannte er die Wahrheit, während die Erinnerung mit aller Macht zurückkam: sein Vater, der im Keller auf einem Schlafsack lag, neben sich eine leere Packung Tabletten und eine leere Whiskeyflasche. Er erinnerte sich an einen beißenden Gestank, in den sich der Geruch von Putzmittel mischte; seine Mutter hatte alles sauber gemacht, ehe sie den Arzt angerufen und gefragt hatte, was sie jetzt tun sollte.
Hastig wischte sich Rosemary die Tränen ab; sie gestattete sich nie, die Beherrschung zu verlieren. «Glaub mir, er war ein wunderbarer Mann», sagte sie. «Aber gegen das Dunkel in ihm hatte er keine Chance. Als er aus dem Krieg zurückkam, war er nicht mehr derselbe. Er hat nie verwunden, was er in Frankreich gesehen hat.»
Mitch drückte ihre Hände.
«Ich habe ihm nie verziehen, dass er uns verlassen hat», sagte sie. «Ich wusste, dass ich als Mutter allein nicht ausreiche.»
«Das ist nicht wahr», sagte er. Gern hätte er hinzugefügt: Du hast mir alles gegeben, was ich je brauchte. Und: Ich liebe dich, das musst du doch spüren. Doch stattdessen saß er schweigend da und ließ sie von seinem Vater erzählen.
Was Grace anging, war sich seine Mutter zunächst alles andere als sicher gewesen. Sie war so jung, und alles drehte sich nur um ihr Studienfach. Sie konnte nicht kochen und wollte auch nicht sofort eine Familie gründen.
«Nun ja, kein Problem», hatte Mitchs Mutter gesagt. «Nehmt euch ruhig Zeit.»
Trotzdem bestand kein Zweifel an ihren Vorbehalten. Zum Teil hatte es damit zu tun, dass Grace ebenfalls Psychologin war und Rosemary Psychologen prinzipiell misstraute; sie glaubte nicht daran, dass mit all dem
Gerede
irgendetwas bewirkt werden konnte. Verglichen mit Malcolms Arbeit – er war im Brücken- und Straßenbau tätig, und wäre es nach Rosemary gegangen, hätten seine Projekte nach ihm benannt werden müssen – war Mitchs Tätigkeit nicht greifbar für sie, womöglich sogar kompletter Unfug in ihren Augen. Wenn er nach Hause kam, erzählte er für gewöhnlich so wenig wie möglich von seinem Job, sondern ließ sich über die neuesten Nachrichten oder das Wetter aus.
In einer Hinsicht waren Rosemary, Malcolm und er sich schon immer einig gewesen. Sie hassten den Schnee, und nichts ging ihnen mehr gegen den Strich, als schon wieder Auffahrt und Bürgersteig freischaufeln zu müssen. Über den verdammten Schnee konnten sie sich stundenlang auslassen – wann es abermals zu schneien anfangen, wie viel herunterkommen und wann endlich wieder Schluss damit sein würde. Nichts verband sie so sehr wie ihre gemeinsame Abneigung gegen Schnee.
Nur hatten sie nicht mit Grace gerechnet. Als sie zum ersten Mal hörte, wie sie sich zu dritt darüber aufregten, sagte sie: «Dann geht doch einfach mal nach draußen!»
Rosemary lächelte und zündete sich eine Zigarette an; auch wenn sie ihre Söhne tausendmal vor den Gefahren des Rauchens gewarnt hatte, konnte sie es selbst nicht lassen. «Ach, und warum sollte ich das tun, meine Liebe?»
«Ihr müsst den Schnee mit offenen Armen empfangen. Euch inihn reinstürzen. Ski fahren, einen Schneemann bauen, Schneebälle werfen. Versucht’s doch mal!» Grace’ Augen leuchteten. «Das wird euer Leben verändern, ich schwör’s.»
«Was du nicht sagst», gab Rosemary zurück. «Also, bis jetzt hat mir mein Leben auch so recht gut gefallen.»
Eine kurze Pause entstand. Grace wurde knallrot und starrte auf die Tischplatte, bis Malcolms Frau Cindy, stets darum bemüht, bloß keine
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