In einer anderen Haut
Vortag vorbeigekommen und hatte Grace gebadet und ihr die Haare gewaschen. Und auch der Ausdruck permanenter Schmerzen war aus ihren Zügen gewichen. Sie prostete ihm mit ihrem Becher Tee zu.
«Du siehst schon viel besser aus», sagte er.
«Von wegen», gab sie entschieden zurück. «Ich sehe aus wie dreimal durch den Wolf gedreht – alter Spruch von meiner Großmutter.»
Er lachte. Dann schwiegen sie. Ohne etwas Konkretes zu tun zu haben, fühlte er sich seltsam verlegen in ihrer Gegenwart; das Gefühl von Vertrautheit und gleichzeitiger Distanz machte ihn nervös. Es war, als würde er sich in einem Jahrmarktsspiegel erblicken, ein verschwommenes Zerrbild, doch unverkennbar und unausweichlicher selbst. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie erfolgreich er die schmerzhaften Folgen ihrer Trennung verdrängt hatte, die nichtsdestotrotz hartnäckig unter der Oberfläche der vergangenen Jahre pulsierten.
Mit matter Stimme fragte er: «Warum übst du deinen Beruf nicht mehr aus?»
«Oh, und ob ich übe», antwortete sie. «Ich bin nur nicht besonders gut.»
«Grundschullehrerin», sagte er. «Wie ist es denn dazu gekommen?»
Irgendetwas huschte über ihr Gesicht – Schmerz natürlich, aber nicht nur das, vielleicht auch ein Flackern der Erinnerung, vielleicht auch der Schatten eines Lächelns, in einer flüchtigen Kombination, die er nicht zu ergründen vermochte. Sie war älter, nicht mehr so hübsch wie früher, und davon abgesehen war er auch nicht mehr in sie verliebt, dennoch spürte er den Schmerz auf ihren Zügen, als wäre es sein eigener, da er so lange Teil davon gewesen war.
«Na ja, der übliche Grund, würde ich sagen. Burn-out.»
Er hatte seine Zweifel, fand aber nicht, dass es ihm zustand, weiter nachzubohren. «Ich hätte nie gedacht, dass dir so etwas passiert. Du hattest immer so viel Energie.»
Grace zog eine nachdenkliche Miene. «Vielleicht hatte ich zu viel davon. Ich habe meine therapeutischen Fähigkeiten überschätzt.»
Er wartete.
«Bei einigen Patienten», sagte sie zögernd.
«Du meinst, dir ist klar geworden, dass du nicht genug für sie tun konntest.»
Sie zuckte mit den Schultern. «So ähnlich.» Tränen schimmerten in ihren Augen.
«Aber manchmal tun wir auch zu viel des Guten», fuhr er fort. «Wir haben fast schon zu viel Macht über andere, findest du nicht?»
Sie schüttelte den Kopf. «Die Leute machen sowieso, was sie wollen, egal, was wir ihnen raten.»
«Möglich», sagte er.
«Tja, also habe ich meine Praxis geschlossen und den Job als Lehrerin angenommen. Gar nicht schlecht, weil ich so die Sommerferien mit Sarah verbringen kann. Und du, Mitch? Bist du noch zufrieden? Nach allem, was ich im Krankenhaus gehört habe, scheint es doch gut zu laufen.»
«Ach, da gibt’s nicht viel zu erzählen.»
Ein verkrampftes Lächeln umspielte ihre Lippen. «Glückspilz.»
Später trat er hinaus in den kühlen Abend und schlenderte noch ein wenig durch den benachbarten Park. Er war leicht beschwipst vom Wein, und die frische Luft strich angenehm über sein Gesicht. Noch immer bevölkerten viele Menschen – Leute mit Hunden, Hacky-Sack-Spieler, Teenagergrüppchen – den Park, unwillig, sich von den langen Sommerabenden zu verabschieden, während bereits der Herbst heranzog.
Er ging die Monkland Avenue hinunter, die sie vor langer Zeit vielleicht gemeinsam entlangspaziert wären. Vor den Kneipen saßen Menschen zusammen, nippten an ihren Drinks und lachten. Aus der offenen Tür des Old-Orchard-Pub wehten die hohen, schnellen Töne eines irischen Geigers. Dann bog er in die Seitenstraße ein, wo er seinen Wagen abgestellt hatte; das Laub dämpfte die Geräusche, die von der Avenue zu ihm herüberdrangen.
In Grace’ Wohnung brannte kein Licht mehr. Bevor er gegangen war, hatte er sich nach Sarah erkundigt, und Grace’ knappes Nicken hatte ihm verraten, dass er dies gleich zu Anfang hätte tun sollen.
«Ihr geht’s gut, glaube ich. Ihre Lehrerin sagt, alles läuft bestens. Aber ich weiß trotzdem nicht. Bestimmt geht es nicht spurlos an ihrvorüber, wenn sie mich so sieht. Ich würde gern mit ihr darüber reden, aber alle raten mir, es gut sein zu lassen.»
«Und? Willst du es gut sein lassen?»
«Nein.»
Im Licht der Lampe wirkte ihr Gesicht glatt und blass. Sie sah gleichzeitig hoffnungsvoll und traurig aus, fast so wie damals, als sie jung gewesen waren, und er beugte sich näher zu ihr, angezogen von seinen Erinnerungen, reiner Gewohnheit oder einem Instinkt, der
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