In einer anderen Haut
verzichten. An einem der letzten Abende vor Rosemarys Tod fragte ihn Malcolm, ob er Zukunftspläne mit Mira habe.
«Ich weiß nicht genau», erwiderte Mitch. «Aber sie hat mir in den letzten Monaten sehr geholfen.»
«Es würde Mom glücklich machen», sagte Malcolm. «Sie macht sich Sorgen, weil du so viel allein bist.»
Mitch erinnerte sich an ihre Worte.
Jetzt wirst du nie eine Familie haben
. Und er begann zu überlegen, ob es vielleicht nicht doch eine gemeinsame Zukunft für ihn und Mira geben könnte; sie hatte sich in dieser schweren Zeit rührend um ihn gekümmert, und er nahm sich vor, sie mehr an seinem Leben teilhaben zu lassen.
Am nächsten Nachmittag nahm er Mira mit ins Krankenhaus. Ihr letzter gemeinsamer Besuch war schon einige Wochen her, und Rosemarys Zustand hatte sich drastisch verschlechtert: Sie atmete schwer, ihre Wangen waren eingefallen, und ihre Lider flatterten. Aber sie sah zu Mira auf und lächelte.
«Oh, Gracie», sagte sie. «Ich wusste, dass du zurückkommst.»
Mira tätschelte ihre Hand, ohne sich davon irritieren zu lassen. Und da sie ja Krankenschwester war, hätte es auch nicht seiner Erklärung bedurft, dass die Schmerzmittel seine Mutter ein ums andere Mal in die Vergangenheit zurückschickten, sie zuweilen auch glaubte, er sei erst fünf Jahre alt, und ihn dann fragte, was er zum Frühstück haben wolle. Doch in jenem Moment veränderte sich etwas zwischen ihnen, und nachdem seine Mutter gestorben war, verbrachten sie immer weniger Zeit miteinander, bis Mira schließlich einen anderen Mann kennenlernte und nach Ottawa zog.
Lange nach dem Tod seiner Mutter kamen ihm ihre Worte abermals in den Sinn. Es war einer von vielen Momenten, in denen ihm – nicht schockartig, aber doch mit Schrecken – bewusst wurde, dass sein privates Elend, der Entschluss, sich scheiden zu lassen, nicht auf sein eigenes Leben beschränkt geblieben war. Und das bereitete ihm größere Gewissensbisse als je zuvor.
Nach und nach aber begann er ihre Worte in einem anderen Licht zu sehen. Rosemary war tüchtig und selbstlos gewesen, hatte aber auch ständig alle herumkommandiert und stets die Fäden inder Hand halten wollen. Wider Erwarten hatte sie Grace am Ende doch ins Herz geschlossen, und die Scheidung hatte sie gezwungen, die enge Bindung zu ihrer geliebten Schwiegertochter wieder zu lösen. Sie hatte sich nur ungern von Dingen getrennt. Oder Menschen. Er erinnerte sich an etwas, das sie im Zusammenhang mit dem Selbstmord seines Vaters gesagt hatte: «Er hat mich nicht an sich herangelassen, aber ich habe ihn immer weiter bedrängt.»
Und selbst in den letzten Tagen vor ihrem Tod, als sie mehr und mehr verfiel und immer verwirrter wurde, hatte sie nichts zusammenphantasiert und ihre Besucher ebenso stets erkannt. Umso seltsamer war, dass sie Mira mit Grace’ Namen angesprochen hatte. Vielleicht hatte sie es ja mit Absicht getan, um ihn an ihre Worte zu erinnern, womöglich weniger ein Ausdruck ihres Schmerzes als ein Fluch.
Jetzt wirst du nie eine Familie haben
.
Nun begriff er, dass er nie erfahren würde, wie sie ihre Worte wirklich gemeint hatte, da der einzige Mensch, den er hätte fragen können, nicht mehr unter ihnen war.
Sie fehlte ihm nach wie vor – nicht immer, doch manchmal übermannte ihn ihr Verlust urplötzlich mit solcher Macht, dass ihm regelrecht schwindelig wurde. Genauso ging es ihm jetzt. Er hätte ihr gern erzählt, dass er Grace wieder begegnet war und ihr zu helfen versuchte. Er hätte seiner Mutter gern von ihrem Wiedersehen erzählt, aber nicht voller Stolz oder Triumphgefühl, sondern so, als würde er ihr eine Narbe präsentieren, eine tiefe Wunde, die längst verheilt, im Lauf der Zeit fast verblasst war. Denn wenn jemand wusste, was Verlust und Neuanfang bedeuteten, dann sie.
Vielleicht aber war es ja viel einfacher. Vielleicht hätte er auch nur gern jene Stimme aus seiner Kindheit gehört, jene Stimme, die nach orangefarbenem Lippenstift und Craven-A-Zigaretten klang und ihn so sanft geweckt hatte an all jenen Langschläfermorgen. Ja, wie gern hätte er ihre Stimme gehört: «Oh, Gracie. Ich wusste, dass du zurückkommst.»
7
Montreal, 1996
Grace war Einschüchterungsversuche durch Eltern nicht gewohnt, und es wollte ihr nicht aus dem Sinn gehen, was Annie Hardwicks Vater zu ihr gesagt hatte:
Leuten wie Ihnen sollte verboten werden, in anderer Menschen Leben herumzupfuschen
. Dabei hatte sie nichts dergleichen getan; sie hatte dem Mädchen lediglich
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