In einer anderen Haut
machte ihm auf; nicht, weil sie besondere Zuneigung zu ihm empfand, sondern weil sie unbedingt mit jemandem reden wollte. Sie erzählte ihm Geschichten, verkleidete sich und tanzte ihm etwas vor, hielt seine Hand und bat ihn, mit ihr zu spielen. Ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit war unstillbar. Er fragte sich, ob sie schon vor Grace’ Unfall so gewesen war oder ob ihre Anhänglichkeit daher rührte, dass sie Angst hatte, ihre Mutter zu verlieren. Manchmal war er völlig erschöpft, wenn er nach Hause kam, nicht von der Hausarbeit, sondern weil er mit Sarah gespielt hatte.
Grace hingegen war zuweilen gereizter Stimmung, wenn ihr Becken schmerzte – sie versuchte mit so wenig Schmerzmitteln wie möglich auszukommen –, schnauzte ihn dann unvermittelt an oder ließ ihn einfach links liegen. An anderen Tagen sehnte sie sich nach Gesellschaft, wenn sie Stunden um Stunden allein auf dem Sofa verbracht hatte, und beanspruchte fast genauso viel Aufmerksamkeit wie ihre Tochter.
Eines Abends spielten sie zu dritt
Mensch ärgere dich nicht
. Mitch hatte das Spiel seit seiner Kindheit nicht mehr gespielt undwunderte sich, dass es immer noch existierte. Sarah verschränkte hoch konzentriert die Hände, während sie sich über die Spielfiguren beugte. Eingehend und ein wenig herablassend erklärte sie Mitch die Regeln, als wäre er derjenige, der erst acht Jahre alt war. Doch er machte immer wieder Fehler, und schließlich verdrehte Sarah die Augen, warf die Arme hoch und rief: «Mitch! Wie oft muss ich dir denn noch erklären, wie es geht?»
«Entschuldige, Sarah, ich bin einfach alt und langsam.»
Sie nickte. «Ich weiß. Du kannst ja nichts dafür.»
Grace blickte ihn über den Tisch hinweg an; er sah ihr an, dass sie am liebsten laut aufgelacht hätte, und auch er musste lächeln. Er amüsierte sich köstlich. Und es war eigenartig, dass er sich erneut in der Gesellschaft einer alleinerziehenden Mutter und ihres Kindes wiederfand. Nicht, dass er sie als Ersatz für Martine und Mathieu betrachtet hätte. Die Tage, die er mit ihnen verbrachte, waren weniger aufreibend, vielleicht auch deshalb, weil er keine Liebesbeziehung zu Grace pflegte, gleichzeitig aber fühlte er sich manchmal wie das fünfte Rad am Wagen, weil seine Rolle weniger klar definiert war. Sarah verhielt sich lange nicht so auffällig wie Mathieu, und Grace war nicht so unbeherrscht wie Martine. Für ihn war es keine Wiederholung der vorherigen Konstellation, eher eine Variante aus einer anderen Perspektive. Trotzdem erkannte er ein Muster, das sich wie ein roter Faden durch seine aktuelle Biografie zu ziehen schien.
Sie ließen Sarah gewinnen; anschließend las Grace ihr noch eine Geschichte vor, und dann holte Mitch ihren Schlafanzug, bevor er sie ins Bad brachte und ihr beim Zähneputzen half. Vorsichtig führte er die Zahnbürste durch ihren kleinen Mund, wobei er genau darauf achtete, ihr nicht wehzutun, und schließlich präsentierte sie ihm stolz ihre Zähne im Spiegel. «Alles sauber», sagte sie.
Im Kinderzimmer leuchtete nur noch der blaue Schein der Einschlaflampe. Sie krabbelte ins Bett, sagte noch einen Zauberspruch auf, flüsterte sich in den Schlaf und schien es nicht zu bemerken, als er sie nach ein paar Minuten allein ließ.
Als er wieder ins Wohnzimmer kam, musterte ihn Grace so offen und aufmerksam, dass er sich befangen fühlte. «Meine Freundinnen halten dich für einen Engel», sagte sie. «Kein anderer Mann würde so viel für eine Frau tun.»
Er zuckte mit den Schultern, errötete sogar ein bisschen.
«Ich antworte dann immer, du hättest bloß ein schlechtes Gewissen, weshalb auch immer», fuhr sie fort. «Also, warum?»
Das war die Grace, die er von früher kannte; sie ließ einen mit nichts davonkommen. Abermals zuckte er mit den Schultern. «Weil ich andere im Stich gelassen habe.»
«Willst du drüber reden?»
«Nein.»
«Und wie wär’s mit einem Glas Wein? In dem Schränkchen da drüben steht noch eine Flasche Bordeaux, glaube ich.»
Mitch war gerührt. Während ihrer Ehe hatte er fast ausschließlich Bordeaux getrunken, den teuersten, den er sich leisten konnte. Damals hatte er sich damit einen besonders kultivierten Anstrich verpassen wollen; inzwischen trank er einfach, was angeboten wurde oder gerade zur Hand war. Er entkorkte die Flasche, schenkte sich ein Glas ein und ließ sich in den Sessel sinken, der dem Sofa schräg gegenüber stand. Grace’ Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, außerdem war Azra am
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