In einer anderen Haut
zwischendurch dasWohnzimmer betrat, wandte sie den Kopf, doch als er sagte, sie solle sich weiter ausruhen, schloss sie dankbar wieder die Augen.
Er trug die Wäsche in den Keller, nickte einem Nachbarn zu, der ihn neugierig beäugte, und kümmerte sich um die restlichen Besorgungen, bevor er die Wäsche in den Trockner beförderte. Schließlich brachte er die Sachen wieder hinauf und räumte sie in Grace’ Schrank, sorgsam darauf bedacht, ihre Unterwäsche nicht allzu genau in Augenschein zu nehmen. Sarahs Kleidung – unglaublich, wie klein ihre Sachen waren – legte er in die weiße Kommode in ihrem Zimmer. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, blickte Grace ihn an, doch wirkte sie noch angespannter als zuvor.
«Alles okay?», platzte er heraus. «Hast du Schmerzen?»
«Ich bin in einer kleinen Verlegenheit», sagte sie. «Und ehrlich, es tut mir furchtbar leid.»
Im selben Augenblick begriff er, worum es ging, aber seltsamerweise störte es ihn nicht im Mindesten. In Wahrheit erleichterte es ihn sogar, dass einfach nur eine weitere Aufgabe zu erledigen war. «Vergiss es. Erinnerst du dich, wie du dir in Indien den Magen verdorben hattest? Schlimmer kann’s ja wohl nicht mehr kommen, oder?»
«Nett, dass du das erwähnst.» Aber dann lächelte sie.
Zögernd trat er zu ihr. Sie roch ein wenig streng, aber gleichzeitig nach Chemie, nach ungewaschener Haut, Wundsalbe und alten Verbänden. Sie deutete auf die Bettpfanne unter dem Beistelltisch, und als sie den Unterleib anhob, traten Tränen der Anstrengung und des Schmerzes in ihre Augen. «Tut mir leid», wisperte sie.
«Vergiss es.»
Er ließ sie für ein paar Minuten allein, ehe er die Bettpfanne wieder an sich nahm und ausleerte. Als er zurückkam, hatte Grace sich gesäubert, und er entsorgte auch den Inhalt des Plastikeimers, der neben der Couch stand. Ein benommener, fiebriger Ausdruck stand in ihrem Blick, der sich halb ihrer Scham, halb ihren Schmerzen verdankte.
«Schlimmer als damals in Indien?», fragte er.
«Viel schlimmer», sagte sie.
Er drückte ihre Hand und legte so behutsam wie möglich den Arm um sie; ihr Kopf sank an seine Brust, während ein Schluchzen ihren Körper leicht erbeben ließ. Ein paar Minuten lang verharrten sie in dieser Position, doch schließlich schüttelte sie den Kopf und wischte sich die Augen – immerhin ein Zeichen, dass der peinlichste Moment überstanden war.
Um fünf wurde Sarah von der Mutter ihrer Freundin nach Hause gebracht. Sie näherte sich dem Sofa mit derselben Mischung aus Ängstlichkeit und Sorge, die Mitch bereits im Krankenhaus aufgefallen war. Er schob eine Pizza in die Mikrowelle, schenkte ihr einen Saft ein und legte eine DVD in den Player, die sie sich ausgesucht hatte. Sie war sehr still, saß mit angezogenen Knien neben ihrer Mutter und presste sich schüchtern an die Sofakissen.
Eine Stunde später kam eine Freundin von Grace vorbei, um das Mädchen ins Bett zu bringen, und Mitch verabschiedete sich.
«Danke für alles», sagte Grace, und wieder schimmerten Tränen in ihren Augen.
«Jetzt mach aber mal ’nen Punkt», erwiderte er. «Ist doch nicht der Rede wert.»
Und so war er durch eine Seitentür in ihr Leben geschlüpft. Er dachte nicht viel darüber nach, fragte sich auch nicht, ob es richtig oder falsch war. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt: Er war dankbar, etwas zu tun zu haben.
Im Lauf der nächsten zwei Wochen sah er alle paar Tage bei Grace vorbei. Er kaufte für sie ein. Er fuhr Sarah zur Schule und holte sie wieder ab. Er kümmerte sich um die Wäsche.
Als er seinem Bruder Malcolm am Telefon davon erzählte, lachtedieser. «Ich hätte nie gedacht, dass du mal den Hausmann spielst», sagte er.
Mitch war genervt. «Darum geht’s doch gar nicht», erwiderte er und erklärte, dass sich auch andere Freunde von Grace nützlich machten. Trotzdem hatte sein Bruder nicht unrecht: Da er allein lebte, beschränkten sich seine Haushaltspflichten für gewöhnlich auf ein Minimum.
«Okay», lenkte Malcolm ein. «Ist es nicht trotzdem irgendwie komisch, so viel Zeit mit Grace und der Kleinen zu verbringen?»
«Nein», sagte Mitch. «Dazu ist alles schon viel zu lange her.»
Aber ein paar Dinge waren doch ein bisschen seltsam. Zum Beispiel, dass Sarah völlig anders als Mathieu war. Während er in seiner eigenen Welt lebte, in einem Universum aus Dinosaurier-Fakten und physikalischen Gesetzen, suchte Sarah ständig Kontakt zu anderen Menschen. Sie kam immer sofort an die Tür und
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