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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Konflikte aufkommen zu lassen, kurzerhand das Thema wechselte und erzählte, dass sie in Kürze als Avon-Beraterin anfangen würde.
    «Wir haben ein Riesensortiment an schönen Lippenstiften. Nächstes Mal bringe ich dir ein paar mit.»
    Rosemarys orangefarbener Lippenstift war ein Endloslacher zwischen Cindy, Malcolm und Mitch.
    «Das ist aber nett von dir», sagte Rosemary. «Ich kann meinen Farbton nirgends mehr finden. Anscheinend wird er nicht mehr hergestellt. Als ich das letzte Mal bei Cumberland war, meinte die Verkäuferin, sie hätte ihn schon seit Monaten nicht mehr gesehen.»
    Der peinliche Moment war damit überstanden, und auch Grace hielt sich nicht länger damit auf. Sie ließ sich nicht entmutigen, gab nie auf, und schließlich war es ihre Hartnäckigkeit, die Mitchs Mutter überzeugte. Vollends gewann Grace ihr Herz beim ersten Weihnachtsfest, das sie gemeinsam verbrachten. Grace war den ganzen Tag über ziemlich still gewesen, und Mitch spürte ihre Nervosität. Sie hielt sich zurück, hörte den anderen zu, versuchte herauszufinden, wie sie Teil der Familie werden konnte, ohne an ihren Konturen zu rütteln. Am ersten Weihnachtstag verteilten sie nach dem Frühstück ihre Geschenke. Als Rosemary Grace’ Geschenk auspackte, gab sie keinen Ton von sich. Mitch fragte sich, was damit nicht stimmte. Und dann sah er erschrocken, dass seiner Mutter, die nie weinte, Tränen über die Wangen liefen.
    Er sah zu Grace hinüber, die seine Bestürzung jedoch nicht zu bemerken schien. Abwartend blickte sie Rosemary an.
    Es war eine Schachtel mit orangefarbenen Lippenstiften. Sie musste jeden einzelnen Drogeriemarkt in ganz Montreal aufgesucht und alle noch vorhandenen Lippenstifte in Rosemarys Lieblingsfarbe aufgekauft haben. In der Schachtel befanden sich genug scheußliche Lippenstifte, um Rosemary bis ans Ende ihres Lebens zu reichen.
    «So ein schönes Geschenk habe ich noch nie bekommen», sagte seine Mutter.

    Während sie älter wurde, ließ Rosemary ihren Tränen freieren Lauf. Sie weinte bei Mitchs und Grace’ Hochzeit; sie weinte, als ihre Enkel geboren wurden, und sie weinte, ja, schluchzte herzzerreißend, als er ihr berichtete, dass er und Grace sich trennen würden.
    «Jetzt wirst du nie eine Familie haben», presste sie mühsam hervor.
    Einen flüchtigen Moment lang hasste er sie – zum ersten Mal in seinem Leben. Wie konnte sie ihm etwas so Grausames ins Gesicht sagen, da er sich ohnehin wie ein kompletter Versager fühlte? Und wie kam sie bloß darauf? Schließlich war er noch jung und konnte jederzeit wieder heiraten; wenn er eine Familie gründen wollte, konnte er das selbstverständlich immer noch tun.
    Aber natürlich hatte sie recht. Es kam nie dazu.

    Fünf Jahre nach seiner Scheidung wurde bei Rosemary Magenkrebs diagnostiziert.
    «Und ich habe immer geglaubt, ich kriege irgendwann Lungenkrebs», stellte sie trocken fest. «Gut, dass ich nicht mit dem Rauchen aufgehört habe.»
    Es war Winter, und Mitch hatte sie ins Krankenhaus gefahren. Sie saßen in seinem Wagen; wie immer roch sie nach Zigarettenrauch und ihrem Jean-Naté-Parfüm.
    «Also, ich weiß nicht», sagte er.
    Die Ärzte hatten ihnen gesagt, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Malcolm nahm den nächsten Flieger von Mississauga nach Montreal. Cindy und die Kinder sollten später mit dem Wagen nachkommen, um Abschied zu nehmen. Sie hatten den Zeitplan ruhig und sachlich im Wohnzimmer beim Kaffee durchgesprochen, ganz den Vorstellungen seiner Mutter entsprechend. Sie war immer noch ein echtes Organisationstalent. Unter ihrer Ägide stünde die ganze Welt besser da, dachte er.
    Zu jener Zeit war Mitch mit einer jungen Frau namens Mira zusammen, einer Krankenschwester, die er bei der Arbeit kennengelernt hatte. Sie war klein, hatte ein freundliches Wesen, verwöhnte ihn mit köstlichen indischen Gerichten, deren Zubereitung sie von ihrer Mutter gelernt hatte, und stand ihm die ganze Zeit über zur Seite, während seine Mutter im Sterben lag. Er stellte sie auch Malcolm und Cindy vor, aber sie wurden nicht so richtig warm miteinander. Wenn er nachts weinte, hielt sie ihn in ihren Armen.
    Schon wenige Wochen später ging es mit seiner Mutter zu Ende. Malcolm hatte sich Urlaub genommen und wohnte vorübergehend bei ihrer Mutter, und wenn Mitch gelegentlich ebenfalls dort übernachtete, tranken sie meist schweigend zusammen Whiskey; auch wenn es nicht viel zu sagen gab, waren sie beide unfähig, auf den Trost des anderen zu

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