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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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zugehört und sie nach bestem Wissen und Gewissen beraten – was schließlich auch die Dienstleistung war, für die sie in erster Linie bezahlt wurde. In Gedanken führte sie das Streitgespräch mit Annies Vater fort. Ein paar Tage später hatte er, offenbar betrunken, abends um zehn eine Nachricht auf den Anrufbeantworter in ihrer Praxis gesprochen. «Sie hören von unserem Anwalt», hatte er gesagt.
    Aber sie hatte weder von irgendeinem Anwalt noch von Annie gehört; mittlerweile war sie schon dreimal nicht zu ihren Terminen erschienen.
    Unterdessen begann ihre Beziehung zu Tug ernsthafte Formen anzunehmen. Der Mann, der zunächst so distanziert, so zurückhaltend gewesen war, hatte sich sichtlich verändert. Mittlerweile lächelte er häufig, und manchmal, wenn sie allein waren – und nur dann –, drang ein ganz besonderes Lachen aus seinem Mund, das sie ansteckte und überglücklich machte, nicht zuletzt, weil es so intim war, ein Teil einer Sprache, die sie gemeinsam erschaffen hatten, die ihnen ganz allein gehörte.
    An ihrem Geburtstag lud er sie in ein schummeriges, lautes griechisches Restaurant ein, wo sie eingepfercht in einer Nische saßen, herben Rotwein tranken und gegrillten Tintenfisch und Lamm aßen. Mit geröteten Wangen erzählte ihr Tug eine lange Geschichte von einem Jugendfreund, der geradezu süchtig danach gewesen war, von Bäumen, Zügen und schließlich auch von Gebäuden zu springen, ohne sich dabei je eine Verletzung zuzuziehen, egal aus welcher Höhe er sprang. «Es ist nicht zu fassen», sagte Tug kopfschüttelnd, «aber er hat immer überlebt.»
    «Verrückt», sagte Grace lächelnd.
    Seine Hand lag auf der ihren. Er hatte ebenfalls überlebt.

    Wenn sie ihn gelegentlich dazu zu bewegen versuchte, über jenen Tag in den Bergen zu sprechen, wich er ihr nicht direkt aus, blieb aber stets schwammig in seinen Aussagen. «Ich war unglücklich, Grace», antwortete er dann, beließ es aber dabei. Und wenn sie weitere Fragen stellte, ihm mehr zu entlocken versuchte, blieb er ebenso einsilbig.
    Je länger er sich weigerte, über den Vorfall zu reden, desto neugieriger wurde sie, was diesen schwarzen Fleck in seiner Vergangenheit betraf. Natürlich wollte sie nur wissen, was ihn zu dieser Verzweiflungstat getrieben hatte. Über seine Scheidung sprach er relativ offen. Mit seiner Exfrau – sie lebte inzwischen wieder in Hudson bei ihren Eltern – war er vier Jahre verheiratet gewesen, doch sie hatten einfach nicht zueinandergepasst, und so traurig es auch sein mochte, war das Ende von vornherein absehbar gewesen. Es klang keineswegs wie eine Lüge, mehr wie eine simple, holzschnittartige Version der Wahrheit. Was sein Berufsleben anging,wusste sie mittlerweile, dass er in der Schweiz für die UNESCO gearbeitet hatte, ein öder Bürokratenjob, wie er erzählte. Jedenfalls hatte er schließlich die Nase voll gehabt. Aber in dem Schreibwarenladen wollte er ebenso wenig versauern; er gönnte sich lediglich eine kleine Auszeit, um sich darüber klar zu werden, was er als Nächstes tun wollte.
    Stets blieb er gleichermaßen wortkarg, ob es nun um seine finanzielle Situation, seine Zeit in psychiatrischer Behandlung oder das Verhältnis zu seiner Familie ging. Während sie mehr aus ihm herauszubekommen versuchte, fühlte sie sich, als würde sie immer weiter auf denselben widerspenstigen Nagel einhämmern.
    Tug hingegen stellte ihr nur selten Fragen – aber, so vermutete sie, wohl nicht aus Desinteresse, sondern weil ihre Unterhaltungen sonst aus der Balance geraten wären. Auf diese Weise sorgte er dafür, dass sie weiter die Rolle der Inquisitorin innehatte. Und es funktionierte; schließlich stellte sie gar keine Fragen mehr.
    Trotzdem lösten sich ihre Fragen nicht in Rauch auf; sie nisteten sich nur tiefer in ihrem Unterbewusstsein ein. Tatsächlich waren ihr nur Grundzüge seines Lebens bekannt: wo er zur Schule gegangen, dass er verheiratet und im Ausland gewesen war. Was wirklich in ihm vorging, blieb hinter seinem Seelenvorhang verborgen, und die Diskrepanz zwischen dem, was er ihr erzählte, und dem, was sie nicht wusste, blähte sich immer weiter und weiter zwischen ihnen auf – und manchmal, wenn sie ihn umarmte, fühlte sich diese Blase zwischen ihnen an, als wäre sie das Einzige, was sie überhaupt an ihm berühren konnte.

    An einem Donnerstagnachmittag kümmerte sich Grace um einigen liegen gebliebenen Papierkram. Eigentlich hätte Annie Hardwick um diese Zeit ihre Sitzung gehabt,

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