Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
Vom Netzwerk:
perfektionieren, aber auch einen hohen Preis dafür zahlen.
    «Annie», versuchte sie das Mädchen aufzumuntern. «Du bist sechzehn. Und bald erwachsen.»
    «Was meinen Sie damit?», gab Annie zurück.
    «Du bestimmst selbst über dein Leben», erklärte Grace. «Niemand zwingt dich, so wie deine Eltern zu werden.»
    Zu ihrem Erstaunen trat plötzlich ein Lächeln auf Annies Züge. Sie verschmierte ihr Make-up, als sie sich mit dem Ärmel über die Wangen fuhr, schien aber den Gedanken als tröstlicher zu empfinden, als Grace erwartet hatte. «Ja, Sie haben recht», sagte sie und stand abrupt auf. «Sie haben absolut recht.»
    Grace wurde flau im Magen. Wenn ein Patient so schnell einlenkte, war es meist alles andere als ein gutes Zeichen. «Lass uns darüber reden, was das für deine Zukunft bedeutet.»
    «Nein», sagte Annie. «Mir geht’s wieder bestens.» Immer noch lächelnd, nahm sie ihren Mantel; die Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt, und ihre Augen strahlten. An der Tür wandte sie sich noch einmal um. «Danke, Grace. Sie haben mir sehr geholfen.»
    Es war das erste Mal, dass sie sich bei ihr bedankte. Dann warsie verschwunden. Den Kopf in die Hände gestützt, saß Grace an ihrem Schreibtisch. Irgendetwas war soeben gravierend schiefgelaufen; sie wusste nur nicht genau, was. Die Sitzung war ihr komplett entglitten. Sie hatte das Mädchen gehen lassen, und nun, daran bestand für sie nicht der geringste Zweifel, würde sie nie wieder zurückkommen.

    Am Abend kam Tug vorbei, und nachdem sie gekocht hatte, aßen sie schweigend zusammen. Grace musste immer wieder an ihre Sitzung mit Annie denken. Sie fragte sich, ob das, was sie über ihren Vater angedeutet hatte, tatsächlich der Wahrheit entsprach, was ihr plötzlich jenes strahlende Lächeln ins Gesicht gezaubert hatte, und was sie, Grace, hätte anders machen können. Es war ihr vorgekommen, als würde sie mit einer ganz neuen Patientin sprechen, mit einer Frau, die sie nie zuvor gesehen hatte.
    Falls Tug ihre Geistesabwesenheit bemerkte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Nach dem Abendessen kümmerte er sich um den Abwasch, während sie im Wohnzimmer eine Zeitschrift las. Erst eine halbe Stunde später, als er zu ihr kam und sah, dass sie weinte, fragte er, was denn los sei.
    Sie ließ die Zeitschrift sinken. «Ich kann so nicht weitermachen», sagte sie.
    «Was meinst du?»
    Mit ausdruckslosem Gesicht stand er vor ihr, und ihr war klar, dass er sie ebenso auf Abstand hielt wie Stunden zuvor das Mädchen in ihrer Praxis. Es war schlicht unerträglich für sie, sowohl in ihrem Beruf als auch zu Hause mit dieser Distanz konfrontiert zu sein. Sie hielt es nicht mehr aus. «Ich muss es wissen», sagte sie.
    Tug gab ein leises, genervtes Schnauben von sich, zuckte mit den Schultern und wandte den Blick von ihr ab. «Das würde nichtsändern», erwiderte er, ohne Anstalten zu machen, sich ebenfalls zu setzen.
    Sie schluckte und erwiderte so ruhig wie eben möglich: «Da irrst du dich.»
    «Ich bin nicht dein Patient, Grace», sagte er. Seine Stimme klang rau. «Du kannst mich nicht umkrempeln. Ich weiß, du hast einen Helferkomplex, aber so funktioniert das einfach nicht.»
    Grace strömten die Tränen über die Wangen. Sie stand auf und sah ihm in die Augen, ebenso unschlüssig wie er, und beide zitterten sie leicht. Das fragile Gleichgewicht, in dem sie sich eingerichtet hatten, geriet plötzlich ins Wanken, und unvermittelt fühlte sie sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.
    «Ich habe keine Ahnung, wie du über all das denkst», sagte sie, «aber ich will dich nicht mehr sehen, solange du nicht ehrlich zu mir bist.»
    «Oh, Gracie», erwiderte er. «Aber es war doch alles so schön.»
    Er nahm sie in die Arme, und sie schloss die Augen, gab sich einen Moment lang der Wärme seines Körpers hin, fühlte seine Bartstoppeln an ihrer Wange. Dann löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück. «Lass mich jetzt allein», sagte sie.

    Als sie zu Bett gegangen war, wartete sie darauf, dass er anrufen oder zurückkommen würde, doch passierte gar nichts; er hatte ihre Wohnung auch ohne ein Wort des Widerspruchs verlassen. Ihre Gedanken schweiften wieder zu Annie zurück – wieso war das Mädchen von einer Sekunde auf die andere wie verwandelt gewesen, wie hatte sie dieses seltsame, strahlende Lächeln ausgelöst? Nach einer Weile kam ihr wieder das Abendessen mit Tug in dem griechischen Restaurant in den Sinn. Sie

Weitere Kostenlose Bücher