In einer anderen Haut
und bislang hatte sie den Termin noch nicht neu vergeben, nahm sich aber vor, dies alsbald zu tun. Dann aber klopfte es an der Tür, und zu ihrer Überraschung trat Annie ein.
«Hi», sagte sie lächelnd.
Sie sah hübscher aus als zuvor, weniger kindlich, nicht zuletzt, weil sie keine Zahnspange mehr trug. Sie zog ihren Wintermantel aus und warf ihn auf die Couch; darunter trug sie einen knappen Pulli und Jeans statt der üblichen Schuluniform. Sie wirkte zielstrebig und selbstbewusst, und ihr war klar anzusehen, dass sie nicht die Absicht hatte, sich für den Ärger zu entschuldigen, den sie Grace eingebrockt hatte.
«Wie geht’s dir?», fragte Grace.
«Absolut
grauenhaft.»
Sie warf ihr blondes Haar zurück. «Bestimmt haben Sie es mitgekriegt. Was für eine
Katastrophe!
Ich habe seit Wochen Hausarrest – Ollie, Freunde, Einkaufszentrum, alles gestrichen. Meine Mutter hat mein Tagebuch gefunden und ist total
ausgeflippt
. Und dann noch das ganze Theater mit der Schwangerschaft. Du lieber Gott!»
«Und wie denkst du jetzt über deine Schwangerschaft?»
«Ich bin froh», erwiderte Annie entschieden, «dass ich es hinter mir habe.»
«Okay.» Grace kam es vor, als würde sie mit einem komplett neuen Wesen sprechen, das seine jungmädchenhafte Haut abgestreift hatte und zu einer schöneren, wilderen Kreatur geworden war.
Sie unterhielt sich ein paar Minuten mit Annie über die Schule, ihre Freunde und darüber, dass sie ihre Spange losgeworden war, bevor sie wieder auf ihre Eltern und die schwierigen Umstände der letzten Wochen zu sprechen kam.
«Meiner Lehrerin, Miss Van den Berg, habe ich erzählt, ich hätte die Grippe. Aber dann habe ich mich irgendwie geschämt, weil mirdie Lüge so leicht über die Lippen kam. Erst in dem Augenblick ist mir klar geworden, dass man sich das Lügen meistens verkneift, weil man ohnehin nicht glaubt, dass man damit durchkommt. Und deshalb ist Lügen eben doch keine Kleinigkeit.»
«Das stimmt wohl», sagte Grace zögernd. «Soll das bedeuten, dass du deine Eltern in Zukunft nicht mehr anlügen willst?»
Annie lachte. «Meine Eltern», sagte sie, stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf, als wären sie die Kinder, die dauernd Probleme machten. Dann entspannten sich ihre Züge, und plötzlich wirkte sie aufrichtig und traurig. Sie faltete die Hände im Schoß, fast wie zum Gebet. «Mein Vater hat eine Geliebte, die drüben in Saint-Lambert lebt», sagte sie in leisem, resigniertem Tonfall. «Ich weiß Bescheid. Früher war sie seine Sekretärin, aber jetzt lässt sie sich nur noch von ihm aushalten. Gestern haben sich meine Eltern die halbe Nacht gestritten. Sie haben gedacht, ich schlafe, aber ich habe alles mitbekommen. Anscheinend ist sie schwanger und will das Baby auch bekommen. Ehrlich, das wäre doch völlig
gaga
gewesen, wenn sie und ich gleichzeitig ein Kind bekommen hätten. Wie wären die Babys überhaupt miteinander verwandt?»
«Ich weiß es nicht», erwiderte Grace.
«Vielleicht wäre ich dann meine eigene Tante oder so. Jedenfalls hat ihm meine Mutter gedroht, sich selbst einen Lover zu nehmen. Aber sie würde meinen Vater sowieso nie verlassen, dazu hätte sie nie im Leben den Mut. Ich glaube nicht mal, dass sie ihre Drohung wahr macht. Stattdessen wird sie sich mal wieder Beruhigungsmittel verschreiben lassen.»
Sie blickte auf ihre gefalteten Hände, und plötzlich rannen ihr Tränen über die Wangen, ohne dass sie einen Ton von sich gab.
«Es ist nicht deine Schuld», sagte Grace sanft. «Du hast keinen Einfluss darauf.»
«Früher hat er …», schluchzte sie, hielt dann aber inne.
Grace wartete.
«Früher hat er sich immer zu mir ins Bett gelegt und gesagt, ichwäre seine süße Kleine. Er macht es jetzt zwar nicht mehr, aber …» Ihre Schultern bebten; sie weinte jetzt heftiger, heulte Rotz und Wasser.
Grace reichte ihr ein Papiertaschentuch. «Erzähl mir mehr davon.»
«Nein», presste Annie hervor. «Nein.» Als sie den Kopf hob und sich die Augen wischte, trat ein harter, gefasster Ausdruck auf ihre Züge. Mit einem Mal war ihre Maske wiederhergestellt, als würde eine Schiebetür zugleiten. Der Umstand, dass ihre Fassade gelegentlich doch noch bröckelte und sie dann augenscheinlich Mühe hatte, ihre gespielte Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten, ließ sie in Grace’ Augen nur noch bedauernswerter erscheinen. Sie übte sich darin, andere auf Abstand zu halten, und mit den Jahren würde sie diese Kunst zwar immer weiter
Weitere Kostenlose Bücher