In einer anderen Haut
Sie waren der Meinung, dass man sich selbst ein Urteil bilden sollte, statt sich auf Dritte zu verlassen; ihr hart erarbeitetes Insiderwissen empfanden sie als Ausdruck ihrer Überlegenheit, und es war geradezu Tradition, sich über die Neulinge und ihre Fehler zu amüsieren.
Zunächst erschienen ihm die Tage als lang, heiß und angenehm betriebsam. Es gab jede Menge zu tun. Die Versorgung in den Lagern sicherzustellen, war eine Sisyphusaufgabe, und die Hilfsgüter, die ihnen zur Verfügung standen, reichten hinten und vorn nicht aus. Stiefel und Kleidung, Kisten und Kästen waren bedeckt vom rötlichen Straßenmatsch, der sich in der Hitze in Staub verwandelte und dann Mund, Nase und Ohren verklebte. Sein Vorgesetzter stammte aus Quebec, hieß Philippe und gab knappe, klare Anordnungen auf Englisch und Französisch. Tug richtete neue Versorgungsstationen ein, in denen die Flüchtlinge Trinkwasser und Medikamente erhalten konnten, und nahm die Bedingungen im Lager in Augenschein. An seinem ersten Tag erspähte er eine Frau, die offensichtlich im Sterben lag. Ihre eingefallenen Wangen waren von Fliegen übersät, und neben ihr hockte ein kleiner Junge, der sich matt an ihr knochiges Knie schmiegte. Tug fühlte ihren Puls, aber sie war bereits tot, und als er herumfragte, konnte er keine anderen Verwandten des Kindes ausfindig machen.
Philippe erklärte ihm, dass es eine Unterkunft für Waisen gab; die Nonnen dort würden den Jungen aufnehmen. «Vorübergehend», sagte er. «Wahrscheinlich hat er sowieso AIDS.» Folgsam trottete der Junge neben Tug her, als er ihn zu den Nonnen brachte. Offenbar hatte er nicht genug Kraft, um irgendeine Form von Gegenwehr zu leisten.
Die Wohnanlage wurde von einem Hauswart namens Etienne betreut, der dort mit Frau, Sohn und Tochter wohnte. Wenn Tug am späten Nachmittag von der Arbeit kam, kickten der Sohn und seine Freunde einen Fußball aus Bananenblättern durch den Hof, während seine Schwester dabei zusah. Etienne war ein großer, hagerer Typ, freundlich und umgänglich; er trug stets Hemden und braune Hosen, die ihm eine elegante Erscheinung verliehen. Sein Schwager hatte in Kanada studiert, an der Universität von Laval, und ihm viel erzählt. Etienne und seine Frau hatten vorgehabt, ihn in Quebec zu besuchen, sogar mit dem Gedanken gespielt, selbst dort zu studieren.
«Aber, na ja.» Er hielt inne und machte eine vage Handbewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte – widrige Umstände, die Wirtschaftslage, familiäre Probleme und Verpflichtungen. «Ich bin immer noch hier», sagte er und lud Tug zu einem Bier ein. Häufig saßen sie so zusammen und vertrödelten den frühen Abend, während die Jungs um sie herum Fußball spielten. Er fragte Tug nach Marcie, seiner Familie, seiner Ausbildung. Und er erzählte, dass seine Frau aus einer Hutu-Familie stammte und seine eigenen Verwandten Kigali bereits den Rücken gekehrt hatten.
«Aber wir bleiben hier.» Er deutete auf den Häuserkomplex und den Hof, den er jeden Tag kehrte und dabei die Bewohner mit großer Geste grüßte, als wäre es sein Königreich.
Etiennes Schwager hatte ihm vom Eishockey erzählt, speziell von den Montreal Canadiens. Nun wollte er wissen, wer Tugs Lieblingsspieler waren und welche Mannschaft zuletzt den Stanley Cup gewonnen hatte. Ihre Unterhaltungen weckten die Aufmerksamkeit seines Sohns. Yozefu war elf Jahre alt und völlig hingerissen von der fremden Sportart. Er fragte Tug, was es für Regeln gab, wie die einzelnen Teams hießen und wie lange ein Spiel dauerte, und schließlich musste Tug auch noch genauestens erklären, wann es Penalty gab, was Sudden-Death-Overtime und Abseits bedeuteten. Als der Junge und seine Freunde ihm weiter Löcher in denBauch fragten, lachte Tug, griff sich einen langen, dicken Ast und den Ball und zeigte ihnen, wie man mit einem Eishockeyschläger umging.
Yozefu begriff schnell, bewegte den Ball hin und her, imitierte Tugs Tricks und Täuschungen. Tug brachte ihm den alten Spruch «Ein Schuss, ein Treffer!» bei, und der Junge wiederholte ihn unablässig und lachte, als hätte er noch nie etwas Lustigeres gehört.
Im Türrahmen der Familienwohnung stand seine Schwester und beobachtete sie aus dem Schatten, ein halbes Lächeln auf den Lippen.
Dann hielt der Junge plötzlich inne und fragte Tug, warum man mit diesen Klingenschuhen nicht im Boden stecken blieb. Tug hatte ihm erklärt, dass Kufen so etwas wie Klingen waren, aber Yozefu nannte sie Machetenschuhe,
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