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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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andere als überrascht. Anscheinend war es für sie völlig normal, dass Frauen überall denselben Tätigkeiten nachgingen.
    Marcie hatte ihm ein Päckchen mit lauter nützlichen Dingen geschickt: Fußpuder, antimikrobielle Waschlotion, Polypropylen-Socken.Und natürlich einen Früchtekuchen. Als er sie bei ihren Eltern anrief, waren im Hintergrund trotz des Rauschens und Knackens in der Leitung Weihnachtslieder, Gläserklirren und das Geschrei ihrer Neffen zu hören.
    «Du fehlst mir», sagte Marcie. «Ich wünschte, du wärst hier.»
    «Ich auch», sagte Tug. In diesem Moment war es die Wahrheit, doch als er aufgelegt hatte und sich auf den Heimweg machte, stimmte es plötzlich nicht mehr. Er sehnte sich nach allem Möglichen: einer heißen Dusche, Marcies Körper, einem Hamburger. Aber Sehnsucht und Verlangen gehörten hier zu seinem Alltag, und in gewisser Weise gefiel es ihm sogar, den Mangel zu spüren, der wie ein Hungergefühl an ihm nagte. Er war regelrecht süchtig nach Entbehrung. Er wusste nicht, wie das passiert war, ob es mit seiner Kindheit zusammenhing oder irgendeiner Eigenheit seiner Persönlichkeit, doch war er zu einem Menschen geworden, der den Wert dessen, was er hatte, nur im Verzicht erkennen konnte.

    Zwischen Weihnachten und Ostern spitzte sich die Lage zu. Im Westen von Kigali fanden erbitterte Kämpfe statt, und es war die Rede von einem ausgewachsenen Bürgerkrieg. Auf den Straßen sah er Jugendliche in martialischer Aufmachung – die Interahamwe. Sie sahen aus wie gewöhnliche Kleinkriminelle, die aus Langeweile randalierten, doch in ihren Blicken lag eine erschreckende Kälte. Sie ignorierten ihn, schienen ihn überhaupt nicht wahrzunehmen.
    Etienne schüttelte den Kopf. «Das sieht nicht gut aus», sagte er.
    «Warum bringt ihr euch nicht in Sicherheit?», fragte Tug.
    Wieder einmal vollführte Etienne eine weit ausholende Geste mit der Hand, die den Wohnkomplex, seine Familie, ihre Verwandten und vielleicht sogar das Land selbst mit einschloss. Tug vermochtenicht zu sagen, ob Stolz oder Trotz hinter seiner Geste lag. «Wir leben hier», antwortete er.
    Unterdessen wollte Marcie wissen, wie lange er noch in Ruanda bleiben würde. Er sagte ihr, dass er wahrscheinlich im August zurück sei. «Im August», wiederholte sie. Ihre Stimme drang schwach und blechern aus dem Hörer, trotzdem entging ihm nicht, wie sehr sie die Situation belastete. Er wusste, wie sehr sie sich Kinder wünschte. Ihre gemeinsame Zukunft wartete gleich hinter dem Horizont, und sie konnte es kaum erwarten. Dass sie die Erfüllung ihrer Träume seinetwegen zurückstellen musste, bedrückte ihn schwer.

    Anscheinend machte es ihm nichts aus, Grace von alldem zu erzählen. Er war, als spräche er nicht über sich selbst, sondern von einem Fremden.
    «Das meiste ist ja bekannt», sagte er. Da die Fakten über alle Medien verbreitet worden waren, brauchte er nicht alles noch einmal aufzuwärmen, oder? Das Mörser- und Gewehrfeuer der vorrückenden Armee, der Gegenschlag der Interahamwe, die plärrenden Radios. Jeder wusste doch, was geschehen war. Selbst in den Lagern war niemand sicher, und zu Hunger und Krankheiten kam auch noch die Angst, mit Raketen beschossen zu werden. Wer fliehen konnte, floh, und Hunderttausende von Menschen versuchten, sich in den Süden zu retten.
    Tug schlief nicht mehr. Nachts hing weißer Rauch über der Stadt. Dann wurde der Präsident umgebracht, und das Morden nahm erst so richtig seinen Lauf. Mit Äxten bewaffnete Kinder. Blutlachen in den Straßen. Während er davon erzählte, klang seine Stimme nicht heiser vor Entsetzen, sondern abgehackt und präzise, jedes Wort auf die nackten Tatsachen reduziert. «Da war dieser Fluss, auf dem Leichenüber Leichen trieben», sagte er. «Du hast es damals bestimmt in den Nachrichten gesehen. Aus der Ferne waren pausenlos Schreie zu hören, und manchmal kamen sie ganz aus der Nähe. Überall lagen tote Kinder, und diejenigen, die überlebt hatten, suchten nach ihren toten Müttern.»
    Innerhalb von Stunden waren die meisten Weißen evakuiert worden. Ja, sie hatten das Land den Mördern überlassen. Kurz darauf fand er sich in einem Hotelzimmer in Nairobi wieder; im Schneidersitz saß er in der Badewanne, ohne sich erinnern zu können, wie er dorthin gekommen war oder wie lange er hier bleiben sollte.

    In Nairobi berichteten Leute, dass sich Freunde von ihnen am Telefon verabschiedet hatten, unmittelbar bevor sie ermordet worden waren. Manche hatten

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