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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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still und resigniert geklungen, andere bis zur letzten Sekunde um Hilfe geschrien. Man hatte alles übers Telefon gehört. Die Technologie existierte, um andere über das Morden zu informieren, nicht um es zu verhindern.
    Tug teilte sich das Hotelzimmer mit zwei anderen Entwicklungshelfern; es war eng, aber auch wenn es saubere Bettwäsche und Handtücher gab, war es nicht zum Aushalten, und da sie kein Ventil für ihren Zorn hatten, gingen sie stattdessen aufeinander los. Tug verzog sich an die Bar, wo er auf die Gorillafrau traf, die ebenfalls in ihrem Hotel untergebracht worden war; er verbrachte die Nacht mit ihr und hörte sich ihre Lebensgeschichte an, die ihn komplett kaltließ. Kurz darauf ging einer seiner Zimmergenossen ebenfalls mit ihr ins Bett und erzählte hinterher, sie hätte ihm ein Messer in die Hand gedrückt und ihn aufgefordert, es ihr an die Kehle zu halten. «Sie steht auf Gefahr», sagte er und hob anzüglich die Augenbrauen.
    Einige seiner Kollegen gingen nach Goma, um in den dortigen Flüchtlingslagern zu helfen. Dass es sich bei diesen Flüchtlingen um Mörder handelte, ließen die meisten unter den Tisch fallen; unter Entwicklungshelfern wurden solche Dinge so gut wie nie thematisiert. Und dann, als sich eine Choleraepidemie in den Lagern ausbreitete, begann die Welt endlich aufzumerken. In dem Moment, als die Mörder zu sterben begannen.
    Tug und seine Zimmerkollegen wurden nach Entebbe geschickt, um dort einen Stützpunkt einzurichten. Dankbar, endlich wieder etwas zu tun zu haben, stürzten sie sich sofort in die Arbeit.
    Und Marcie, die heilfroh über seine Evakuierung war, flehte ihn an, endlich nach Hause zu kommen.
    «Was sind das für Unmenschen?» Sie meinte nicht die Mörder, sondern seine Vorgesetzten bei der Hilfsorganisation. «Wie können sie von dir erwarten, jetzt noch weiterzumachen? Das ist Sadismus!» Sie begann zu weinen. «Sie müssen dich nach Hause lassen.»
    Tug schwieg. Die Wahrheit war, dass er sie in diesem Moment gar nicht als real empfand; sie war lediglich eine Stimme am Telefon, deren Schluchzer durch die knisternde Leitung drangen.
    «Ich liebe dich», sagte sie. «Komm bitte nach Hause.»

    Er blieb so lange wie möglich in Entebbe. Vier Monate später wurden sie wieder nach Ruanda beordert, als sich die Lage beruhigt zu haben schien. Von dem grünen, blühenden Land, das er bei seiner Ankunft kennengelernt hatte, war buchstäblich keine Spur mehr zu finden. Übrig geblieben war ein Ort, in den sich niemand mehr verlieben konnte. Alle Farmen waren verlassen oder komplett zerstört worden. Ganz Kigali stank nach verwesenden Leichen, überall kreisten Fliegenschwärme, und an jeder Ecke begegnete man Rudeln vonfetten, Menschenfleisch fressenden Hunden, die so aggressiv geworden waren, dass man sie nur noch erschießen konnte. Hier und da kehrten die ersten Exilanten in ihre leeren Häuser zurück; es war ein surrealer Anblick, wie sie die Böden fegten, ein verzweifelter Akt häuslicher Normalität, mit dem natürlich nichts, aber auch gar nichts ungeschehen gemacht werden konnte.
    Alles, was er in seinem Zimmer in der Wohnanlage zurückgelassen hatte – nun ja, bloß ein paar Zeitschriften und Klamotten –, war verschwunden. In den Wänden befanden sich Einschusslöcher.
    Auch Etiennes Wohnung war verwaist. Nur ein übler Geruch stieg ihm in die Nase, den er jedoch nicht lokalisieren konnte. Schwitzend stand er da und dachte darüber nach, dass er bald wieder seiner Arbeit nachgehen, Medikamente, Elektrolytlösungen und Wasserreinigungstabletten ausgeben würde. Dann drang unvermittelt ein leises Geräusch an seine Ohren, und sein ganzer Körper schaltete auf Alarm, da er eine der riesigen Ratten erwartete, die draußen im Unrat gewühlt hatten. Stattdessen erhob sich ein blutiger Haufen, den er für Müll gehalten hatte, und bewegte sich auf ihn zu. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, als er plötzlich seinen Namen hörte.
    Es war der Junge, Yozefu, und Tug war so überglücklich, ihn zu sehen, dass er ihn in die Arme schloss. Der Junge versuchte seine Umarmung zu erwidern, aber es gelang ihm nicht. Er hatte sich in alte, stinkende Fetzen gehüllt, roch schrecklich, und in das Zimmer fiel so wenig Licht herein, dass Tug erst draußen in der Sonne bemerkte, dass Yozefu nur noch einen Arm besaß.
    Er war bei einem Arzt gewesen, und eine benachbarte Familie hatte ihn ab und zu mit etwas Essbarem versorgt, doch sein Körper schien regelrecht zu

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