In einer anderen Haut
weil das die einzigen Klingen waren, die er kannte. Als Tug ihm antworten wollte, ging ihm plötzlich auf, dass der Junge es ohnehin nicht begreifen würde. Ein Spiel, das auf Eis ausgetragen wurde, war für ihn ebenso unvorstellbar wie ein Eisstadion oder der Winter in Nordamerika.
Daher sagte er einfach, der Boden in Kanada sei anders beschaffen. Der Junge zuckte mit den Schultern, und er und seine Freunde spielten noch eine Weile mit dem Stock, ehe sie wieder zum Fußball übergingen, wobei sie pausenlos «Ein Schuss, ein Treffer!» riefen, wann immer ihnen der Spruch gerade wieder in den Sinn kam.
Trotz der Spannung, die man überall in Kigali spüren konnte, war Tug zunächst sogar glücklich. In schwierigen Zeiten neigt man eben dazu, nicht allzu genau hinzusehen. Wenn Menschen plötzlich von Krieg und Hungersnot sprechen, von kriegerischen Horden erzählen, die sich im Norden zusammenrotten, von Zivilisten, die sichmit Macheten bewaffnen, hat man nur eine Wahl, nämlich sich um seine Arbeit zu kümmern. Da draußen sind Menschen, die deine Hilfe benötigen, also teilst du Wasser und Reis aus, bringst kranke Kinder zum Arzt und sprichst mit ihren Eltern. Jeder einzelne Tag besteht aus festen Abläufen, dringlichen Notwendigkeiten, die nahtlos ineinander übergehen. Man macht sich keine Sorgen mehr über ausstehende Hypothekenzahlungen oder die nächste Zahnreinigung. Dazu hat man schlicht keine Zeit, und plötzlich fühlt man sich freier als je zuvor.
Im Schatten eines im Hof stehenden Bananenbaums hörten er und Etienne Radio. Der Rundfunk war hier das Medium Nummer eins, und nun liefen dauernd neue Lieder, die reinen, glühenden Hass versprühten. Als er seinen Schweizer Kollegen abends an der Hotelbar davon erzählte, taten sie das Ganze kurzerhand ab und erklärten ihm, er habe keine Ahnung von der Geschichte des Landes. Er wusste tatsächlich nichts darüber; er verstand nicht, warum hier so wenige Belgier waren, obwohl der Krieg nicht zuletzt eine Folge der während der belgischen Kolonialzeit geschaffenen Strukturen war. Er verstand nicht, warum die Kanadier genug Truppen geschickt hatten, aber anscheinend nicht eingreifen wollten.
Wie auch immer, er war kein Experte für politische Zusammenhänge und auch nie einer gewesen. Er kannte sich aus mit Organisation und Logistik; ein kurzer Blick auf das jeweilige Terrain reichte ihm, um zu wissen, wo man am besten Nahrungsmittel verteilte oder Krankenstationen errichtete. Schon damals bei den Pfadfindern war er so gewesen; stets hatte er Zuflucht im Praktischen gesucht. Ihm ging es darum, unter den Nägeln brennende Probleme schnellstmöglich zu lösen; mit moralischen Fragestellungen undkulturellen Verwicklungen konnte man sich ewig beschäftigen, ohne je auf einen grünen Zweig zu kommen.
Seine Kollegen nannten ihn den schweigsamen Kanadier. Tatsächlich war ihm nicht sonderlich viel zu entlocken, wenn es nicht gerade um Eishockey ging. Dabei wollte er keineswegs abweisend erscheinen; er war einfach von Natur aus nicht sehr redselig. Als Kind hatten er und sein Vater zuweilen in der Garage Modellautos zusammengebaut oder mit der Laubsäge gewerkelt, während seine Mutter und seine Schwester die Küche aufräumten und dabei die ganze Zeit über schnatterten. Sein Vater war stets froh gewesen, der «Hühnerparty» zu entkommen, wie er es nannte. «Schweigen ist Gold», hatte er immer gesagt. Er verachtete alle Schwafler, die viel quatschten, aber nichts zu sagen hatten. Von ihm hatte Tug gelernt, nur zu sagen, was wirklich etwas bedeutete, und lieber zu handeln, statt mit Worten großen Wind zu machen.
Zu Weihnachten fand eine Feier im Hotel statt. Und auch wenn es niemand zugeben wollte, war es eine schwere Prüfung für alle, die so weit entfernt von zu Hause feiern mussten. Das Wetter, das Essen, das Ambiente, alles wirkte falsch. Auf dem Weg zur Kirche traf er Etienne und seine Familie, und alle wünschten ihm frohe Weihnachten. Sie hatten sich mächtig in Schale geworfen und ihre feinsten Sachen angezogen, und erst jetzt fiel Tug auf, wie schön Etiennes Frau und seine Tochter tatsächlich waren; die pastellgelben Kleider brachten ihre Haut regelrecht zum Leuchten. Das Mädchen – Esmeralda – trat schüchtern vor und überreichte ihm ein Zierdeckchen, das sie für ihn gestickt hatte. Das kleine Geschenk erinnerte ihn an seine Mutter, die ebenfalls stickte und häkelte; als er Etienne und seiner Familie davon erzählte, reagierten sie alles
Weitere Kostenlose Bücher