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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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errichten. Er wusste, auf welchem Terrain man am besten Latrinen baute und dass man die Reisrationen erst an die Frauen austeilte und nicht an die Männer, schon gar nicht an junge. Unter Kindern mit ausgestreckten Händen begann er aufzublühen, pulsierte er regelrecht vor Energie, kam wochenlang mit drei, vier Stunden Schlaf pro Nacht aus. Zu Hausein Kanada fühlte er sich wie gelähmt. Konfrontiert mit Versicherungspapieren, dem Haushalt seiner Eltern und dem Palaver seiner Mutter über die Nachbarn, brachte er kaum genug Kraft auf, um ganz normale Tage zu überstehen.
    Gott sei Dank war Marcie in solchen Dingen nicht zu schlagen. Papierkram machte ihr nichts aus. Sie beschwerte sich nicht, wenn er keine Zeit für sie hatte, und hatte stets ein offenes Ohr für seine Mutter. Fernweh kannte sie nicht; sie stammte aus einer großen, eng verbundenen Familie und hasste Reisen. Sie verbrachten jedes Wochenende zusammen; wenn sie nicht für ihn kochte, aßen sie bei ihren Eltern in deren geräumigem Landhaus in Hudson zu Abend. Seiner Mutter brachte sie immer frisch eingekochte Marmelade oder Kekse mit; seine Mutter pflegte dann schwach zu protestieren, nahm es aber nur allzu gern hin, derart umsorgt zu werden. Ihre Familien waren im Nu ein Herz und eine Seele; ihre Eltern besuchten seinen Vater im Krankenhaus, und Weihnachten verbrachten sie alle zusammen. Ein Jahr darauf hielt er während eines Urlaubs in Florida um ihre Hand an, und zwei Monate später heirateten sie im engsten Kreis ihrer Familien. Als er ihr den Ring ansteckte, rannen ein paar Tränen über ihre Wangen, und er dachte: Das ist es. Endlich hat mein Leben Gestalt angenommen.
    Als sich der Zustand seines Vaters wieder besserte – zumindest soweit das für einen Siebzigjährigen mit seiner Vorgeschichte möglich war –, erkundigte er sich bei der Hilfsorganisation, für die er auch in Guatemala gewesen war, nach einer neuen Mission. Marcie war alles andere als begeistert über die bevorstehende Trennung, verstand aber, dass er endlich wieder seiner Berufung folgen wollte. Sie bewunderte sein Engagement, seine Bereitschaft, anderen Menschen helfen zu wollen, und er ließ sich nur allzu gern von ihr anhimmeln, ohne ihr je zu verraten, dass sein Job Adrenalin pur, vielleicht sogar eine Droge für ihn war. Womit er eine erste Kluft zwischen ihnen schuf, aber er sagte sich, dass es in ein paar Jahren ohnehin keine Rolle mehr spielen würde, wenn er nicht mehr alsEntwicklungshelfer arbeitete und sie irgendwo ein ruhiges Leben führen würden.
    Er wurde nach Ruanda geschickt. Dort hatte er ebenfalls die Aufgabe, sich um infrastrukturelle Maßnahmen und die medizinische Versorgung zu kümmern, wenn auch aus anderen Gründen, da hier keine Naturkatastrophe geschehen war, sondern das Land von zivilen Konflikten erschüttert wurde, die Abertausende von Menschen in Flüchtlingslager getrieben hatten.
    Er wusste nur wenig über Ruanda, doch als er aus dem Fenster des Flugzeugs blickte, kam es ihm vor, als habe er dieses Land schon einmal gesehen, vielleicht im Kino, im Fernsehen oder – natürlich war es Unsinn, aber trotzdem streifte ihn der Gedanke – sogar in seinen Träumen. Die Landschaft war bergig, grün, in Wolken eingehüllt und unvergleichlich schön, gleichzeitig herb und üppig. Ihm war, als würde er einen anderen Planeten anfliegen, ein Gefilde, das man besuchte, wenn man genug Zeit an den banalen Orten der Erde verschwendet hatte. Sein Herz schlug höher, so wie immer, wenn er auf ein fremdes Land hinunterblickte: Es gab so viel zu entdecken, so viel zu tun, und er spürte, wie seine alte Energie zurückkehrte, ein Gefühl von Zielstrebigkeit und Bestimmung, das seinen Aufenthalt prägen würde.
    Wenn Marcie das nur sehen könnte, dachte er, und schoss ein verwackeltes Foto.

    Sein Zimmer befand sich in einer maroden einstöckigen Wohnanlage, in der außer ihm noch ein paar Helfer aus Belgien und der Schweiz untergebracht waren. Abends saßen sie in einer nahe gelegenen Hotelbar beim Bier zusammen, umgeben von anderen Ausländern, die meisten davon Journalisten, Krankenschwestern undMitarbeiter der UN. Es war Dezember 1993, und eine seltsam nervöse Spannung lag in der Luft, die er sich nicht recht erklären konnte. Aber er war ja gerade erst eingetroffen, und womöglich herrschte hier immer eine derartige Stimmung. Er hatte keinen Überblick, wusste nicht, was hier vor sich ging, und den anderen an der Bar war auch nicht allzu viel zu entlocken.

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