In einer anderen Welt (German Edition)
hast?«, hatte mein Mathematiklehrer mich voller Verzweiflung gefragt. Na ja – Venn-Diagramme sind eben einfach, während schriftliche Division mir nach wie vor Probleme bereitet. Am schwierigsten waren die Aufgaben, bei denen irgendwelche Menschen ohne jede Motivation unbegreifliche Dinge taten. Dabei fiel es mir schwer, mich auf die eigentliche Rechnung zu konzentrieren, während ich mich fragte, warum es irgendjemanden interessieren sollte, wann zwei Züge aneinander vorbeifuhren (Spione), weshalb Sitzordnungen so wichtig waren (geschiedene Ehepaare) oder – was mir bis zum heutigen Tag ein Rätsel ist – wie man Wasser in eine Badewanne einlassen kann, ohne den Stöpsel reinzutun.
Geschichte, Sprachen und Naturwissenschaften stellen mich nicht vor solche Probleme. Wenn man in den Naturwissenschaften etwas berechnen muss, leuchtet es immer ein, und außerdem darf man den Taschenrechner benutzen.
»Ich muss unbedingt Latein und Biologie belegen und sowohl Französisch als auch Chemie«, sagte ich und sah vom Stundenplan auf. »Auf Kunst und Religion kann ich verzichten, das lässt sich also leicht arrangieren.«
Die Schulleiterin ging in die Luft, als sie das hörte, denn Stundenpläne sind anscheinend heilig oder etwas in der Art. Ich hörte ihr nicht richtig zu. »Auf diese Schule gehen über fünfhundert Mädchen. Erwartest du, dass ich ihnen allen Ungelegenheiten bereite, um dir entgegenzukommen?«
Mein Vater, der zweifelsohne Heinlein gelesen hat, stärkte mir den Rücken. Wenn ich mich zwischen Heinlein und einer Schulleiterin entscheiden muss, steht das Ergebnis von vorneherein fest. Schließlich einigten wir uns auf einen Kompromiss: Ich werde auf Biologie verzichten müssen, kann aber die drei anderen Fächer belegen, was nur einiger Umstellungen bedurfte. Den Chemieunterricht muss ich in einer anderen Klasse besuchen, aber das ist mir gleichgültig. Einstweilen hatte ich einen Sieg errungen, und so willigte ich ein, mir meinen Schlafsaal zeigen zu lassen und die Bekanntschaft meiner Hausleiterin und meiner »neuen Freunde« zu machen.
Als sich mein Vater von mir verabschiedete, küsste er mich auf die Wange. Ich sah ihm nach, wie er zur Eingangstür hinausging. Kaum war er im Freien, zündete er sich eine Zigarette an.
Freitag, 7. September 1979
Wie sich herausstellt, ist das mit der tollen ländlichen Gegend ein ziemlicher Witz.
Na ja, zum Teil trifft es schon zu. Arlinghurst steht völlig für sich zwischen den ganzen Sportplätzen, umgeben von Ackerland. Im Umkreis von dreißig Kilometern gibt es keinen Flecken, der nicht von irgendjemandem genutzt wird. Da weiden Kühe, dumme, hässliche Viecher, schwarz und weiß wie Spielzeugkühe, nicht braun wie die echten, die wir in den Ferien gesehen haben. ( Zeigefinger ist die braune Kuh, die macht immer muh, muh, muh. ) Sie stapfen auf der Wiesen herum, bis es Zeit zum Melken ist, und dann marschieren sie brav nach Hause. Das ist mir heute Nachmittag aufgefallen, als ich einen Spaziergang über das Anwesen machen durfte – diese Kühe sind ja so was von blöde! Kein Wunder, dass das Wort »Rindvieh« als Schimpfwort herhalten muss.
Ich stamme aus den walisischen »Valleys«, und es hat einen guten Grund, dass sie »die Täler« genannt werden. Hier haben sich Gletscher tief in die Berge gegraben, und flaches Land ist selten. Solche Täler gibt es überall in Wales. In den meisten stehen eine Kirche und ein paar Bauernhöfe, und im ganzen Tal leben vielleicht tausend Menschen. Mehr gibt das Land auch nicht her. Unser Tal, das Cynon Valley, hat, wie die benachbarten Täler auch, mehr als hunderttausend Einwohner, die alle in viktorianischen Reihenhäusern wohnen. An den Steilhängen sind Terrassen angelegt, auf denen sich die Häuser wie Weintrauben aneinanderschmiegen; dazwischen ist kaum genug Platz, um Wäsche aufzuhängen. Häuser und Menschen sind zusammengepfercht wie in einer Stadt, schlimmer als in einer Stadt, nur dass Aberdare keine Stadt ist. Hatte man die Häuserreihen jedoch erst hinter sich gelassen, begann die Wildnis. Und selbst auf den Straßen konnte man die Augen zu den Bergen aufheben.
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt – ein Psalm, der sich mir immer von selbst verstand. Die Berge waren wunderschön, grün, mit Bäumen und Schafen, und sie waren allgegenwärtig. Eine Wildnis waren sie in dem Sinne, dass jeder jederzeit dorthin gehen konnte. Sie gehörten niemandem, im Unterschied zu der
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