In einer anderen Welt (German Edition)
wütend an, wenn sie versuchen, mich zu hänseln, oder wenn sie mich herablassend behandeln, und zu meiner Erleichterung muss ich feststellen, dass das auch hier seine Wirkung tut. Ich werde mit allen möglichen Schimpfnamen bedacht – Taffy, Dieb und rote Socke. Manches davon ist immerhin nicht völlig aus der Luft gegriffen – Krüppel oder Schleimer. Rote Socke nennen sie mich, weil sie glauben, ich hätte einen russischen Namen. Als ich dachte, er würde keine Rolle spielen, habe ich mich geirrt. Sie zwicken und schubsen mich, wenn sie meinen, dass es niemand sieht, aber richtig gewalttätig werden sie nie. Nach meinem Heimaufenthalt ist das nichts, rein gar nichts. Ich habe meinen Stock und meinen wütenden Blick, und bald habe ich, wenn das Licht ausgeschaltet wurde, angefangen, Gespenstergeschichten zu erzählen. Sollen sie mich doch fürchten, solange sie mich in Ruhe lassen. Sollen sie mich hassen, solange sie mich fürchten. Für ein Internat ist das eine recht gute Strategie, auch wenn es Tiberius nicht nur Gutes gebracht hat. Das habe ich auch Sharon gesagt, und sie hat mich angeschaut, als wäre ich ein Alien. Was? Was? An die Leute hier werde ich mich nie gewöhnen.
In allen Fächern außer Mathe bin ich inzwischen die Klassenbeste. Das ging schnell. Schneller als ich dachte. Vielleicht sind die Mädchen hier nicht so klug wie die auf dem Gymnasium? Dort haben es ein oder zwei mit mir aufgenommen, aber hier bin ich konkurrenzlos. Ich bin den anderen haushoch überlegen. Merkwürdigerweise nimmt meine Beliebtheit wegen meiner Noten gleichzeitig etwas zu und ab. Der Unterricht ist ihnen gleichgültig, und sie hassen mich, weil ich sie überflügelt habe; andererseits bekommt jedes Haus für besonders gute Noten Punkte, und Hauspunkte sind ihnen wirklich wichtig. Es ist deprimierend, wie sehr dieses Internat dem gleicht, was Enid Blyton uns gezeigt hat, und wenn es in mancher Hinsicht anders ist, dann nicht zum Besseren.
In Chemie ist es nicht so schlimm, weil ich da in eine andere Klasse gehe. Da unterrichtet der Fachbetreuer für Naturwissenschaften, der einzige männliche Lehrer an der Schule, und die Mädchen wirken weit interessierter. Es ist das beste Fach auf dem Lehrplan, und ich bin froh, dass ich darum gekämpft habe. Mir ist egal, dass ich Kunst verpasse – obwohl es Tantchen Teg bestimmt leidtäte. Ich habe ihr nicht geschrieben. Ich habe daran gedacht, traue mich aber nicht. Sie würde meiner Mutter nicht verraten, wo ich bin – sie als Allerletzte –, aber das Risiko ist zu groß.
Gestern habe ich die Bibliothek entdeckt. Ich habe die Erlaubnis, dorthin zu gehen, wenn die anderen Sport haben. Es hat seine Vorteile, ein Krüppel zu sein. Die Bibliothek ist nicht besonders toll, aber sie ist weit besser als gar nichts, also beschwere ich mich nicht. Mit den Büchern, die mein Vater mir geliehen hat, bin ich durch. (Er hat recht, was die andere Hälfte von Imperiums-Stern betrifft, aber Imperiums-Stern gehört zum besten, was ich je gelesen habe.) In den Regalen hier habe ich Der Stier aus dem Meer entdeckt und ein anderes Buch von Mary Renault, von dem ich noch nie gehört habe – The Charioteer – sowie drei SF-Romane für Erwachsene von C. S. Lewis. Die Wände in der Bibliothek sind holzvertäfelt und die Stühle mit altem, rissigen Leder gepolstert. Außer mir und der Bibliothekarin ist hier nie jemand, und ich gebe mir größte Mühe, zu Miss Carroll stets höflich zu sein.
Jetzt habe ich auch wieder die Gelegenheit, mein Tagebuch weiterzuführen. Am meisten macht mir zu schaffen, dass es hier fast unmöglich ist, alleine zu sein – dauernd wird man gefragt, was man gerade macht. »Ich schreibe ein Gedicht« oder »ich führe Tagebuch« wäre mein Todesurteil. Nach den ersten paar Tagen habe ich es gar nicht mehr versucht, obwohl ich es wirklich wollte. Hier halten sie mich sowieso schon für verschroben. Ich schlafe zusammen mit elf anderen Mädchen in einem Schlafsaal. Nicht einmal im Badezimmer bin ich allein – die Toiletten und Duschkabinen haben keine Türen, und natürlich werden dort die tollsten Witze gerissen.
Aus dem Fenster der Bibliothek blicke ich direkt auf die Äste einer sterbenden Ulme. Die Ulmen sterben hier überall – sie sind vom Schlauchpilz befallen. Meine Schuld ist das nicht. Ich kann nichts dagegen tun. Aber damit will ich mich nicht abfinden. Wenn ich nur mit den Feen reden könnte! Gut möglich, dass schon ein kleiner Eingriff helfen würde. Die
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