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In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Walton
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flachen, eingezäunten »Landschaft« um die Schule herum. Die Berge waren Gemeindeland. Und selbst unten in den Tälern gab es Flüsse und Wälder und Ruinen, denn die Eisenwerke mussten nacheinander schließen, die Gebäude wurden aufgegeben. In den Ruinen wuchsen Pflanzen, die Wildnis eroberte sie zurück, und die Feen ließen sich darin nieder. Mit der Phurnacite-Fabrik ist tatsächlich das passiert, was wir erwartet hatten. Es hat nur ein wenig länger gedauert.
    Wir spielten während unserer ganzen Kindheit in den Ruinen, manchmal allein, manchmal mit anderen Kindern oder mit den Feen. Uns war nicht klar, worum es sich bei den verfallenen Gebäuden handelte, lange Zeit nicht. In der Nähe von Tantchen Florries Haus befand sich ein altes Eisenwerk, wo wir uns besonders gerne herumtrieben. Dort trafen wir auch andere Kinder, und manchmal taten wir uns mit ihnen zusammen – zum Versteckspielen waren die Ruinen wunderbar geeignet, oder um Verfolgungsjagden zu veranstalten. Was ein Eisenwerk war, wusste ich nicht. Falls mich jemand gefragt hätte, wäre ich wohl darauf gekommen, dass dort irgendjemand mit Eisen gearbeitet hatte, aber niemand fragte mich. Es war eben ein Spielplatz. Im Herbst war alles von Weidenröschen überwuchert. Wir wussten nur selten, wie diese Orte hießen.
    Die meisten Ruinen in den Wäldern hatten keine Namen und konnten alles Mögliche sein. Für uns waren sie Hexenhütten, Riesenschlösser und Feenpaläste, und wir spielten dort Hitlers letzte Bastion oder Die Mauern von Angband , aber in Wirklichkeit waren das die Trümmer ehemaliger Fabriken. Die Feen hatten sie nicht erbaut. Sie hatten, nachdem die Menschen sie verlassen hatten, zusammen mit der Vegetation dort Einzug gehalten. Falls Sie sich jemals fragen sollten, warum die Waliser nicht in ebensolcher Zahl in die Neue Welt ausgewandert sind wie die Iren und die Schotten – das liegt nicht etwa daran, dass sie keinen Grund gehabt hätten, ihre Bauernhöfe zu verlassen. Aber sie fanden woanders Aufnahme. Oder glaubten das wenigstens. Auch Engländer ließen sich dort nieder. Die walisische Sprache zog dabei den Kürzeren. Walisisch war die Erstsprache meiner Großmutter und die Zweitsprache meiner Mutter. Ich kann nur noch ein paar Brocken. Die Familie meiner Großmutter stammt aus dem Südwesten von Wales, aus Carmarthenshire. Wir hatten noch immer Verwandtschaft dort, »Mary vom Land« und ihre Familie.
    Meine Vorfahren sind, wie alle anderen auch, hierher gezogen, nachdem Eisen und Kohle entdeckt wurden. Die Menschen bauten an Ort und Stelle Schmelzhütten, Eisenbahnen für den Transport, Häuser für die Arbeiter, immer mehr Schmelzhütten, immer mehr Minen, immer mehr Häuser, bis die Täler flächendeckend besiedelt waren. Die Berge blieben jedoch weitgehend unberührt, und dorthin haben sich die Feen geflüchtet. Dann ging das Eisen aus oder konnte woanders billiger produziert werden. Kohle wurde weiterhin abgebaut, aber im Vergleich mit dem, was hier vor hundert Jahren los war, war das ein Witz. Die Eisenwerke wurden aufgegeben. Gruben schlossen. Manche Leute zogen weg, andere blieben. Schließlich waren sie inzwischen hier zu Hause. Bis wir geboren wurden, war chronische Arbeitslosigkeit an der Tagesordnung, und die Feen schlichen sich langsam wieder in die Täler zurück und nahmen die Ruinen in Besitz, die niemand haben wollte.
    Als wir klein waren, hinderte uns niemand daran, in den Ruinen zu spielen, und wir kümmerten uns nicht darum, wozu sie früher gedient hatten. Wir fanden es einfach nur großartig dort. Alles war verlassen, überwuchert, abgelegen. Hatte man sich erst von zu Hause fortgestohlen, begann die Wildnis. Wir konnten immer in die eigentlichen Berge hinaufsteigen, wo die Natur noch unberührt war – dort gab es Felsen und Bäume und Schafe mit grauem Fell vom Kohlestaub, die wir nicht leiden konnten. (Ich kann nicht verstehen, wie manche Leute irgendetwas für Schafe empfinden können. Oft riefen wir »Pfefferminzsoße!«, um sie zu verscheuchen. Tantchen Teg verzog darüber immer das Gesicht und sagte, wir sollten damit aufhören, aber das schreckte uns nicht ab. Die Schafe liefen runter ins Tal, warfen Mülltonnen um und zertrampelten Gärten. Deshalb musste man auch das Gatter schließen.) Aber selbst unten im Tal stieß man überall auf Bäume und Ruinen – mitten in, unter und am Rand der Stadt. Und das war auch nicht die einzige Landschaft, die wir kannten. In den Ferien fuhren wir nach

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