In einer Familie
Buch. Während der Bearbeitung für die neue
Ausgabe war es mir oft, als beschäftigte ich mich mit
dem Werk eines jungen Menschen, der einst meines-
gleichen gewesen, mir aber schon längst aus den
Augen gekommen wäre. Um die Beziehungen wie-
der herzustellen, war ich versucht, ihm einen Brief
zu schreiben. Antwort ist nicht erfolgt. Man verstän-
digt sich so schwer mit seiner Vergangenheit. Hier ist
mein Brief.
An den Verfasser von »In einer Familie«.
Mein lieber junger Freund,
Ihr Roman soll in neuer Ausgabe erscheinen. Der
Verleger schickt ihn mir, damit ich ihn stilistisch auf-
frische und einige Ihrer Gedanken zurechtbiege
oder verdeutliche. Werden Sie mir den Eingriff ver-
zeihn?
Sie schrieben Ihr Buch als Einundzwanzigjähri-
ger. Heute wären auch Sie beträchtlich über fünfzig.
Sie gingen aber schon längst auf Reisen und kamen
nicht wieder.
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Sie, der Sie »In einer Familie« schrieben, wissen
nichts von den Jahrzehnten, die seither über uns hin-
gingen, nichts von der Welt, die aus uns ward. Bei
Ihnen fährt kein Auto, und Lampen werden noch ins
Zimmer getragen. Ihre Menschen haben Zeit, Geld
und niemals andere Sorgen, als mit ihren Gefühlen
ins reine zu kommen. Wo sind sie geblieben!
Sie lieben, einst junger Freund, sich Gedanken zu
machen über die Dinge der Seele nicht nur, auch
über ihren Bezug auf das Ewige. Sie glauben, wenn
ich Sie recht verstehe, daß Handeln Erkennen brin-
gen müßte und Erkennen Besserung. Sie sind Mora-
list.
Kühn setze ich voraus, daß ein Fünfziger vom
Einundzwanzigjährigen noch irgendetwas wissen
kann. Dann möchte ich fast glauben, daß Sie das Le-
ben für so ungemein schwer und schrecklich halten,
ohne es noch erprobt zu haben; daß Sie vielmehr Ihr
eigenes, so lange es geht, in äußerer Ruhe und Unbe-
rührtheit dahinführen. Sie haben einzig innere Er-
fahrung.
Wenn ich Ihnen sagen könnte, wie anders es um
die jetzige Jungmannschaft steht! Die hat erlebt!
Hätten Sie recht damit, daß Selbsterhaltung in Ge-
fahren viel neue Einblicke in das eigene Schicksal ge-
währt, was müßte die alles wissen!
Nun verhält es sich aber wohl anders. Die inneren
Erfahrungen müssen zuerst in Muße erworben sein,
sonst hilft das ganze bewegte Leben nichts. Es ver-
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äußerlicht nur. Zu Ihrer Zeit gab es den Film nicht.
Sie erfinden an greifbarem Geschehen nur gerade,
was Ihren Untersuchungen über das Menschenherz
die Gelegenheit gibt. Später kam aber die Losung:
das Leben ein Film. Was hätten Sie damit angefan-
gen?
Werden Sie mit Ihrem stil en Roman Erfolg haben
in dieser, Ihnen unbekannten Welt? Mehreres haben
Sie für sich. Manche werden am Ende nicht ungern
eine Weile sich aufhalten lassen bei sonst übersehe-
nen Einzelheiten des sittlichen Vorkommens.
Schuld, Leiden, Strafe sind billig geworden, diese
Wirklichkeit stürmt über sie weg wie über Gestürzte
auf der Flucht. Hier nun werden sie zur Abwechs-
lung einmal für ganz ernst, ganz selten genommen.
Jeder Ihrer Leser darf sich wichtiger fühlen als sonst.
Auch schmeicheln Sie dem bürgerlichen Men-
schen. Ich weiß wohl, daß Sie es nicht wollen. Was
ahnen Sie denn von dem abgekämpften, abgehausten
Nachfahren, den wir kennen. Ihr Bürgerlicher ist ge-
pflegt und gesichert, die Vornehmheit selbst. Er ist
müde vom Nichtstun, möchte es aber lieber vom Al-
ter seiner Klasse sein. Er interessiert sich äußerst für
seine Verfal serscheinungen. Er geht sogar mit seinen
Gemeinheiten so erlesen um, daß er zuletzt ein gar
nicht schlechter Gegenstand für Sie als Moralisten
wird.
Der abgehetzte Nachfahre müßte Ihnen für die
Verklärung der Väter dankbar sein. Wer weiß, viel-
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leicht würde er Sie durch das Sekretariat anrufen las-
sen. Aber selbst drahtlose Verbindung wird nicht
dorthin hergestellt werden, mein junger Freund, wo
Sie sind. Und Sie werden nicht wiederkommen.
Heinrich Mann.
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Nachwort
Mit 20 konnte ich gar nichts. Gegen 30 lernte ich an meinem
»Schlaraffenland« (Berlin der 90er Jahre) die Technik des
Romans.
An Alfred Kantorowicz, 3. März 1943
»In einer Familie« ist nicht gereift. Der Verfasser war 1893, in Lausanne und Florenz, selbst nicht reif, einen Roman zu
schreiben. Der innere Anlaß wird auch gefehlt haben. Nur
der Beschluß zu schreiben war da.
An Karl Lemke, 29. Januar 1947
Den »Beschluß zu schreiben« hatte schon der Drei-
zehnjährige gefaßt, mit dem Tagebuch seiner
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