In einer Familie
im 19.
Jahrhundert der Ehebruch als Befreiung des Indivi-
duums bis zu seiner Zerstörung erhoben wird. »Ma-
dame Bovary«, »Anna Karenina«, »Effi Briest« – zu
deren Kühnheiten kann und will sich der junge
Heinrich Mann nicht hinreißen lassen, da sie gesell-
schaftssprengend sind. Er aber will die Gesellschaft
erhalten, und zwar, wie Bourget es ihn lehrt, als eine
ständisch geordnete Gesel schaft, die Wel kamp sich
statisch und unabänderlich denkt: »Diese Patrizier-
familien schienen ihm Fürstenhäusern zu gleichen,
so erhaben waren sie über die von Tag zu Tag statt-
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findenden sozialen Wandlungen … Auch konnte sie
keiner der Vorwürfe treffen, welche gegen Kapital
und Bürgertum geschleudert wurden.« In dieser
Statik gefrieren natürlich Gefühl und Gedanke, und
die bloße abgehobene Reflexion bleibt übrig. Hein-
rich Mann begann seine Laufbahn persönlich und
intellektuell unter ungeheuren Widersprüchen, die
er unter klischeehaften Formeln zu verbergen trach-
tete. So kann sich Goethes mentale Ehebruchsge-
schichte zwischen Dora und dem Dilettanten Well-
kamp als Beispiel vom »Kampf der Geschlechter«
abspielen. Das war ein sozialdarwinistisches Theo-
rem, das am Ende des 19. Jahrhunderts Literatur
und Kunst enorm befruchtete. Es war aber auch eine
Phrase, unter der die Geschlechterphysiologie und
-psychologie verflachte und versandete, wie in
Heinrich Manns Roman, in dem die nervöse Dora,
die ausschließlich in dämmrigen Boudoirs lebt,
plötzlich zur »Unterwerfung des Mannes« ansetzt.
Sie ist dazu – durch ihre Herkunft – ausgestattet,
weil sie – wie auch Heinrich Manns Mutter Julia
Mann-da Silva-Bruhns – Tochter einer Kreolin und
eines Europäers ist! Hier offenbaren sich Einflüsse
von Hippolyte Taines Rassenideologie zur Eintei-
lung der Völker. Auch hegt Dora als »Gattungswe-
sen Weib« einen »Haß« auf die jüngere Anna. Diese,
emanzipiert und volkswirtschaftlich gebildet, ist in
ihrem theoretischen Kopf solchen Anfechtungen
gar nicht ausgesetzt. Sie ist »gesund«. Auf Dora hin-
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gegen werden alle Schlagwörter, unter die der
»Kampf der Geschlechter« als Grund »aller Lebens-
äußerungen« gefaßt wurde, gehäuft: Sie ist eine
»Dirne«, sie wird zur »Beute« des Mannes und – das
äußerste Stigma, das die bourgeoise Moral ihr auf-
drücken kann – sie ist eine »gefallene Frau«. Erst in
den Schlußpartien wird sie als Opfer entschuldigt.
Aber das gehört in einen anderen, einen philosophi-
schen Zusammenhang, der ganz zuletzt noch be-
sprochen werden soll. – Der alte Major von Grubeck
ist mit seinen lockeren Kunstbetrachtungen des
»Schönen« triebhaften Begehrungen enthoben, er
ist buchstäblich »i. R.«. Die von Heinrich Mann ge-
wünschte gesellschaftliche Statik kann sich an ihm
ganz wortlos erweisen.
Unter all diesen zeitgenössisch-gängigen, auch
aufgeklärt-vernünftigen Thesen verbirgt sich die
eigentliche Tendenz des Romans, seine Parteinahme
im Streit der literarischen Schulen seiner Zeit: Hein-
rich Mann wendet sich scharf gegen den Naturalis-
mus. Sein Roman ist ein Produkt der »Neuen Ro-
mantik«. Dora, die Hysterische, und Wellkamp, den
Labilen, eint nämlich, noch ehe das sexuelle Begeh-
ren eintritt, ihre Ahnung des »Übersinnlichen«, ihre
Vorliebe für das »Geheimnisvolle«, kurz ein Hang
zum »Mystizismus«. Das zeigt sich in der gemeinsa-
men Betrachtung eines Gemäldes, das so etwas wie
»das zweite Gesicht« darstellt und beider »Kultus
heimlicher Schönheit« anreizt, und auch in ihrem
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Erlebnis der »Tannhäuser«-Oper und dort beson-
ders der Venusbergszene – »Es ist fast zuviel«. Dora
und Wellkamp sind beide Male schon seelisch ver-
einigt, ja die Ekstasen der Wagnerschen Musik leiten
ihre körperliche Vereinigung geradezu ein: Diese
»sanfte Romantik« zieht Wellkamp »auf besondere
Weise zu Dora. Wie schon früher, fühlte er jetzt von
neuem, wie die mystische Empfänglichkeit als ein
wechselseitig empfundenes Band zwischen ihnen
Beiden bestand.«
Heinrich Mann hat dieses erotische Dilettieren al-
lerdings in den Zusammenhang einer ganzheitlichen
Kulturkritik gesetzt. Das wird nach der Venusberg-
szene bei dem Wartburgfest deutlich herausgearbei-
tet. Wellkamp »genoß den Anblick jener feinen und
stolzen Kultur mit ihren vornehmen und freien
Rangabstufungen … in mehr oder weniger bewuß-
tem Gegensatze zu Geist und Formen
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