In einer Familie
Wel kamp erkannte
nun die Vorherbestimmung, die ihn genau auf dem
Wege geleitet hatte, den er genommen, da er auf kei-
nem andern das Ziel hätte erreichen, der Mensch
werden können, der er heute war oder der er werden
sollte. Er fragte sich mit einer mystischen Angst:
wie, wenn er zum Beispiel an jenem Punkte, als das
schuldige Einverständnis bereits vorhanden, und die
thatsächliche Ausführung nur noch die Frage von
Tagen war, das Werdende abgebrochen hätte? Wenn
er in der Folge jenes Weihnachtsabends zu dem Vor-
satze, ohne Zögern abzureisen, die Kraft gefunden
hätte? Und er antwortete, daß dies ebenso unmög-
lich gewesen sei, wie ein Zusammentreffen mit Dora
überhaupt zu verhindern, die ihm vom Schicksal in
den Weg geführt war. Er hatte alle Stationen dieser
Leidenschaft durchwandeln müssen, von höchster
Extase zu tiefster Erniedrigung, weil er nur so von
seiner Jugend erlöst werden konnte. Wie hatte er, als
er in der Ehe von neuem zu beginnen trachtete, glau-
ben können, daß diese Jugend ihn ohne Buße loslas-
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sen werde, mit Al em, was eine Jugend, wie die seine,
hinterläßt an schlecht geheilten Wunden, nicht ver-
schmerzten Enttäuschungen und nachwirkender
Verbitterung, an zu kürzlichen Erfahrungen, die auf
das neue Leben ihre Schatten werfen. Es gab in sei-
nem Leben so unendlich viele Trümmer, die ihm den
Weg versperrten und fortgeräumt werden mußten,
ehe er von neuem zu bauen beginnen konnte. Und
dies war es, was hier geschehen war, mit einem
Schlage, der Alles in der Vergangenheit ihn Bela-
stende mit seiner Wucht in unerkennbare Fernen zu-
rückschob und beinahe unwirklich machte. Alles
ward unansehnlich und verlor seine Wirkung in der
Erinnerung angesichts dieses Opfers, welches sein
Dasein erfordert hatte, und durch welches fortan
sein Fühlen reiner, sein Denken größer gemacht
werden sollte. Der Gedanke aber, daß sie für ihn, für
sein Lebensglück geopfert sei, ergriff ihn von neuem
mit aller Gewalt. Seltsam, er fuhr fort zu bedenken,
daß die Natur, welche kein Gefühl für das einzelne
Geschöpf besitzt und im Großen plant, häufig so
wie hier, ein Leben zerstört, um ein anderes dadurch
erhalten und verbessern zu können, während er sich
doch gleichzeitig unter lautem Aufschluchzen über
den stillen Körper warf, dem er wie ein Geständnis
zurief:
»Ich habe Dich getötet!«
Aber, ist es nicht eben dieser Widerspruch eines
sich ohnmächtig fühlenden Fatalismus mit dem un-
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überwindlichen Gefühle der Verantwortlichkeit, der
das Tragische eines jeden Menschenlebens ausmacht,
des einfachsten wie des bedeutendsten?
Die Dunkelheit ließ nur mehr wenig unterscheiden,
als der regungslos über die Tote Geneigte seiner
schmerzlichen Hingabe durch das Öffnen der Thür
entrissen wurde. Er erkannte in dem Eingetretenen
einen Geistlichen. Anna war durch das lange Ver-
bleiben ihres Gatten bei der Toten beunruhigt wor-
den. Um nun seinen Schmerz mit einer sanften und
verständnisvollen Hand zu berühren, hatte ihr Herz,
dem ihr freidenkerischer Geist nie etwas von seiner
Pietät genommen, das rechte Mittel gefunden. Der
Geistliche, welchen sie holen ließ, gehörte der ka-
tholischen Religion an, welche die der Verstorbenen
gewesen, und für die Anna die Vorliebe ihres Gatten
kannte. Es war ein Mann von Jahren, der die Wissen-
schaft des Beichtstuhls, die reiche Erfahrung, die in
seinem Berufe so feine Seelenkenner bildet, wohl zu
nutzen verstand. Er war gewohnt, dort den Trost,
der trotz Allem der beste bleibt, anzuwenden, wo es
gab, was er in seinen Gebeten von der Kanzel »Sün-
den« nannte, und worunter er »Leiden« begriff. So
hatte er sich auch jetzt bereits bei der Begrüßung
durch Anna durch leise, kluge Erkundigungen über
die Lage der Verhältnisse aufgeklärt, die er völlig
überschaute, wie er nun an das Totenbett trat. Als er
den fassungslos davor Knieenden bewogen, sich zu
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erheben, und ihn an der Hand einige Schritte ins
Zimmer hinein geführt hatte, sagte er, still in den
Schatten deutend, in dem Dora schlummerte:
»Unsere Toten wünschen, daß wir schon im Le-
ben den Frieden haben mögen, den sie leider oft erst
im Tode gefunden haben.«
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X
Schluß
In die Vorbereitung zum Leichenbegängnis setzten
sowohl Anna wie Wellkamp viel Eifer, der nicht
ganz frei von einer gewissen Verlegenheit war. Ge-
wöhnlich dienen die äußerlichen Pflichten, die aus
einem
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