In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)
Inneren war alles ordentlich gefaltet – Pullover, Hemden, Socken, alle sorgfältig sortiert. Oben auf der Kommode lag ein altes Fotoalbum. Sie nahm es und setzte sich damit aufs Bett. Der Plastikeinband knackte beim Öffnen. Die hellvioletten Seiten waren an den Rändern braun.
Es waren ausschließlich Fotos von ihr. Als Baby im Kinderwagen, splitternackt im Planschbecken, im Rüschenkleidchen schmollend in der Sonne. Jedes Bild war mit den gleichen exakten Buchstaben beschriftet wie Itsys Vogelbilder. Ihre Mutter hielt sie in den Armen und sah dabei so fröhlich und schön aus, wie Costello sie nie kennen gelernt hatte. Und Costello mit dem Kopf an Dads Schulter, die Babyarme um den Hals geklammert, die Lippen in sein Haar gedrückt. Costello saß eine Minute lang da und fühlte sich, als würde eine Flutwelle über ihrem Kopf verharren und darauf warten, über ihr zu brechen.
Dann gab es eine Lücke, wo ein Foto fehlte. Die Unterschrift lautete: Ein glücklicher Tag in Strathearn . Hier hatte sich das Polaroid all die Jahre versteckt.
Sie blätterte immer weiter und las ihr Leben in Bildern. Ein Bild auf dem Weg zur Schule, wo sie die Kamera nicht bemerkt hatte und daran vorbeiging. Sie kniff die Augen zusammen: An die Schule erinnerte sie sich, an die Uniform, aber nicht an ihren Dad. Dann folgte das Dreibein-Rennen beim Schulsportfest mit einem Mädchen, das sie nicht leiden konnte. Darunter stand: Prudenza beim Dreibein-Rennen. Sie wurde disqualifiziert, weil sie ihre Kameradin gehauen hat. Es war ein guter Schlag. Nächstes Jahr dann beim Boxen! Ein Ausschnitt aus der Lokalzeitung, als sie für die Seniorenhilfe Geld gesammelt hatte. Ihr Abschluss am Polizeicollege in schnieker Uniform und mit begeistertem Lächeln, bereit, die Welt zu verändern. Ausschnitte über Fälle, an denen sie mitgearbeitet hatte, und Dutzende Fotos von ihr auf der Straße, wie sie an der Ampel über die Byres Road eilte, aus dem Supermarkt kam oder die Treppe zum Revier hinaufstieg. Und jedes war mit Prudenza und dem Datum versehen.
Müde schloss Costello das Album und ließ sich seitlich aufs Bett sinken, bis ihr Kopf auf dem Kissen lag. Sie atmete ein und versuchte sich zu erinnern, wie der Mann, der sie in den Armen gehalten hatte, gerochen hatte. Das Kissen barg den Geruch eines Menschen, nach Haar und Atem und Zigarettenrauch.
Lange Zeit lag sie einfach da und starrte an die Decke.
Sorgfältig verschloss Costello die Tür des Torhauses und steckte den Schlüssel in die Tasche. Wenigstens hatte der Wind den Nebel vertrieben, und die Nacht war klar und frostig. Einen Moment lang sog sie die beißende Luft ein und legte den Kopf vorsichtig in den Nacken, um sich den Sternenhimmel anzusehen. Noch fühlte sie sich nicht bereit, zu O’Hare und Iain Kennedy oben im großen Haus zu stoßen, also suchte sie nach ihrer Taschenlampe und ging in Richtung Teich los. Die Erinnerungen jener Nacht stürmten jetzt auf sie ein, und sie würde sich ihnen früher oder später stellen müssen.
Am Teich setzte sie sich auf die Bank zwischen den Koniferen, wo sich John Littlewood auf eine Zigarette niedergelassen hatte. Sie konnte sich erinnern, wie schön das Eis im Nebel gefunkelt hatte. Costello schauderte und wappnete sich innerlich, den gleichen Weg zu gehen wie in jener Nacht. Sie erreichte die Weide und leuchtete mit der Lampe wieder durch die kleinen Kügelchen, die sich an den peitschendürren Zweigen gebildet hatten und wie Juwelen aussahen. Ungefähr hier war sie zu Boden geworfen worden, hier war ihr Kopf auf die Erde geschlagen, hier hatte sie den unheimlichen Klick gehört.
Genau wie Emily.
Sie hatte Glück gehabt. Das wusste sie.
Auf dem gefrorenen Rasen sah man noch das Durcheinander der Fußspuren, von den Sanitätern, von der Spurensicherung, von den Tauchern, den Fotografen und all den anderen, die im Garten ausgeschwärmt waren. Darunter mussten sich auch die Spuren des kleinen Tonys befinden, ihres Dads, die er hinterlassen hatte, als er über den Rasen und aufs Eis gerannt war, um sie zu retten. Aber sie würde niemals erfahren, welche Abdrücke ihm gehörten.
Kurz schloss sie die Augen. »Danke, Dad«, flüsterte sie.
Rebecca Quinn betrat den leeren Ermittlungsraum, und das Klacken ihrer Stöckelschuhe hallte von den kahlen Wänden zurück. Es war mitten in der Nacht, niemand war da. Ein Trupp aus Partick Central war wie eine Heuschreckenplage über das Revier hergefallen, hatte alle Beweismittel und alle Akten
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