In einer kleinen Stad
ihrer Mutter verriet, daß sie Liebe und Anteilnahme an den Tag legte, und zwar auf die einzige Art, die sie kannte – indem sie Antworten verlangte. Beide Stimmen, so geliebt und verachtet, hatten die alte, heftige Wut in ihr entzündet.
Sie verließen das Restaurant mitten im Hauptgang, und am nächsten Tag waren Mr. und Mrs. Chalmers allein nach Maine zurückgeflogen.
Nach dreimonatiger Pause hatte der Briefwechsel wieder eingesetzt, sehr zögerlich. Pollys Mutter schrieb zuerst, entschuldigte sich für den katastrophalen Abend. Die Bitte, nach Hause zu kommen, fehlte. Das überraschte Polly – und erfüllte irgendeinen tiefen und kaum eingestandenen Teil von ihr mit Furcht. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Mutter nun nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Das war, unter den gegebenen Umständen, sowohl töricht als auch eine Art, sich gehen zu lassen, aber das änderte an diesem elementaren Gefühl nicht das geringste.
Ich nehme an, du weißt selbst am besten, was du willst, schrieb sie an Polly. Das zu akzeptieren, fällt deinem Vater und mir schwer, weil wir in dir noch immer unser kleines Mädchen sehen. Ich glaube, die Tatsache, dich so schön und so viel älter zu sehen, hat ihn bestürzt. Und du darfst ihm aus seinem Verhalten keine allzu großen Vorwürfe machen. Er fühlt sich gar nicht wohl, sein Bauch macht ihm wieder schwer zu schaffen. Der Doktor sagt, es ist nur die Galle, und sobald er damit einverstanden ist, daß sie herausoperiert wird, ist alles wieder in Ordnung, aber ich mache mir Sorgen um ihn.
Polly hatte in gleichermaßen versöhnlichem Ton geantwortet. Es fiel ihr leichter, nachdem sie jetzt ihre Pläne, nach Maine zurückzukehren, auf unbestimmte Zeit aufgeschoben hatte. Und dann, gegen Ende des Jahres 1975, war das Telegramm gekommen. Es war kurz und brutal: DEIN DAD HAT KREBS. ER STIRBT. BITTE KOMM HEIM. IN LIEBE MOM.
Er war noch am Leben, als Polly im Krankenhaus in Bridgton eintraf, benommen von der Zeitverschiebung und den alten Erinnerungen, die das Wiedersehen mit all den vertrauten Orten ausgelöst hatte. An jeder Kurve der Straße vom Portland Jetport nach Castle Rock schoß ihr der gleiche, kaum zu fassende Gedanke durch den Kopf: Als ich das das letzte Mal sah, war ich ein Kind!
Newton Chalmers lag in einem Einzelzimmer, dämmerte ins Bewußtsein und wieder heraus, mit Schläuchen in der Nase und Geräten, die ihn in einem hungrigen Halbkreis umstanden. Er starb drei Tage später. Sie hatte vorgehabt, sofort nach Kalifornien zurückzukehren – das für sie jetzt fast ein Zuhause war -, aber vier Tage nachdem ihr Vater gestorben war, erlitt ihre Mutter einen schweren Herzanfall.
Polly war ins Haus gezogen. Sie hatte ihre Mutter während der nächsten dreieinhalb Monate gepflegt, und allnächtlich träumte sie von Norville, dem Koch in Yor Best Diner. In diesen Träumen drehte sich Norville immer wieder zu ihr um, streckte ihr das Telefon entgegen mit der rechten Hand, der mit dem auf dem Handrücken eintätowierten Adler und den Worten DEATH BEFORE DISHONOR. Polly, es ist die Polizei. Sie will mit dir reden. Polly, es ist die Polizei. Sie will mit dir reden.
Ihre Mutter war aus dem Bett heraus, wieder auf den Beinen, und sprach davon, das Haus zu verkaufen und mit Polly nach Kalifornien zu ziehen (etwas, was sie nie tun würde, aber Polly ließ ihr ihre Träume – sie war inzwischen älter geworden und ein bißchen toleranter), als der zweite Herzanfall kam. Und so geschah es, daß Polly an einem kalten Märztag des Jahres 1976 auf dem Homeland-Friedhof stand, neben ihrer Großtante Evelyn, und einen Sarg betrachtete, der auf Bohlen neben dem Grab ihres Vaters stand.
Sein Leichnam hatte den ganzen Winter über in der Krypta von Homeland gelegen und darauf gewartet, daß der Boden weit genug auftaute, um das Begräbnis zuzulassen. Einer jener grotesken Zufälle, die zu erfinden kein anständiger Romancier wagen würde, hatte bewirkt, daß die Beisetzung des Ehemannes nur einen Tag vor dem Tod seiner Frau erfolgt war. Die Grassoden waren noch nicht wieder auf Newton Chalmers letzte Ruhestätte aufgelegt worden; die Erde lag noch bloß, und das Grab wirkte auf obszöne Weise nackt. Pollys Augen wanderten immer wieder vom Grab ihres Vaters zum Sarg ihrer Mutter. Es ist, als hätte sie nur darauf gewartet, daß er anständig begraben wurde, dachte sie.
Als der kurze Gedenkgottesdienst vorüber war, hatte Tante Ewie sie zu sich gerufen. Pollys letzte noch lebende
Weitere Kostenlose Bücher