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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Verwandte stand neben dem Leichenwagen von Hay & Peabody, ein dünner Stecken von einer Frau in einem schwarzen Herrenmantel und merkwürdig fröhlichen roten Galoschen, und in ihrem Mundwinkel steckte eine Herbert Tareyton. Als Polly herankam, entzündete sie ein Streichholz an ihrem Daumennagel und setzte die Zigarette in Brand. Sie inhalierte tief und stieß dann den Rauch in die kalte Frühlingsluft aus. Ihren Stock (einen schlichten Eschenstock; die Verleihung des Stockes der Boston Post an sie als ältester Einwohnerin der Stadt lag noch drei Jahre in der Zukunft) hatte sie zwischen die Füße gepflanzt.
    Jetzt, wo sie in einem Boston-Schaukelstuhl saß, der der alten Dame bestimmt gefallen hätte, überlegte Polly, daß Tante Ewie in jenem Frühjahr achtundachtzig Jahre alt gewesen sein mußte – achtundachtzig Jahre alt und noch immer qualmend wie ein Schlot -, obwohl sie nicht viel anders aussah als damals, als Polly noch ein kleines Mädchen gewesen war und auf ein Bonbon aus dem scheinbar endlosen Vorrat in Tante Ewies Schürzentasche gehofft hatte. Vieles hatte sich in Castle Rock verändert in den Jahren, in denen sie fort gewesen war, aber Tante Evvie gehörte nicht dazu.
    »Nun, das ist vorbei«, hatte Tante Ewie mit ihrer zigarettenrauhen Stimme gesagt. »Sie sind in der Erde, Polly. Deine Mutter und dein Vater.«
    Polly war in Tränen ausgebrochen, eine wahre Flut von Tränen. Anfangs dachte sie, Tante Ewie würde versuchen, sie zu trösten, und ihr Fleisch wich vor der Berührung der alten Frau zurück – sie wollte nicht getröstet werden.
    Und sie hätte sich deshalb auch keine Gedanken zu machen brauchen. Evelyn Chalmers hatte nie etwas davon gehalten, die vom Kummer Niedergeschmetterten zu trösten; vielleicht war sie sogar davon überzeugt, dachte Polly später manchmal, daß schon die Vorstellung von Trost eine Illusion war. Auf jeden Fall stand sie nur da mit dem zwischen ihren roten Galoschen gepflanzten Stock, rauchte und wartete darauf, daß Pollys Schluchzen in Schnüffeln überging und daß sie die Kontrolle über sich zurückgewann.
    Als ihr das gelungen war, fragte Tante Ewie: »Dein Kind – über das sie sich hier ständig die Mäuler zerrissen haben – es ist tot, nicht wahr?«
    Obwohl sie dieses Geheimnis eifersüchtig vor jedermann bewahrt hatte, nickte Polly. »Sein Name war Kelton.«
    »Ein schöner Name«, sagte Tante Evvie. Sie sog an ihrer Zigarette und ließ den Rauch dann langsam aus ihrem Mund entweichen, um ihn durch die Nase noch einmal einziehen zu können – »einen Doppelzug tun«, so hatte Lorraine Chalmers es immer genannt und dabei verächtlich die Nase gerümpft. »Ich wußte es schon, als du mich nach deiner Rückkehr das erste Mal besuchtest. Habe es in deinen Augen gesehen.«
    »Es hat ein Feuer gegeben«, sagte Polly und sah zu ihr auf. Sie hatte ein Papiertaschentuch, aber es war zu durchweicht, um noch von Nutzen zu sein; sie steckte es in die Manteltasche und benutzte statt dessen ihre Fäuste, bohrte sie in die Augen wie ein kleines Mädchen, das vom Roller gefallen ist und sich das Knie aufgeschlagen hat. »Wahrscheinlich war die junge Frau schuld daran, die ich als Babysitter angestellt hatte.«
    »Nun ja«, sagte Tante Ewie. »Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten, Trisha?«
    Polly nickte, lächelte ein wenig. Ihr eigentlicher Name war Patricia, aber seit sie auf die Welt gekommen war, hatten alle Leute sie nur Polly genannt. Alle, außer Tante Ewie.
    »Der kleine Kelton ist tot – aber du bist es nicht.« Tante Evvie warf ihre Zigarette fort und benutzte einen knochigen Zeigefinger, um damit Pollys Brust anzutippen und ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Du bist es nicht. Also, was hast du vor?«
    Polly dachte darüber nach. »Ich gehe nach Kalifornien zurück«, sagte sie schließlich. »Mehr weiß ich im Moment nicht.«
    »Ja, und für den Anfang ist das in Ordnung. Aber es genügt nicht.« Und dann sagte Tante Ewie etwas, das dem sehr nahe kam, was Polly ein paar Jahre später sagen sollte, als sie mit Alan Pangborn zum Essen in The Birches gegangen war: »Du hast dir nichts vorzuwerfen, Trisha. Ist dir das inzwischen klar geworden?«
    »Ich – ich weiß es nicht.«
    »Dann also nicht. Bis du das begriffen hast, spielt es keine Rolle, wohin du gehst oder was du tust. Solange hast du keine Chance.«
    »Was für eine Chance?« hatte sie verwirrt gefragt.
    »Deine Chance. Die Chance, dein eigenes Leben zu leben. Im Augenblick kommst du mir

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